In diesem Teilmodul wird die Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung in den Blick genommen. Da es im Projekt Mathe inklusiv mit PIKAS um den inklusiven Mathematikunterricht geht, werden speziell die Bedingungsfaktoren für den inklusiven Unterricht betrachtet.

Antworten von Schülerinnen und Schülern und deren Eltern auf die Frage, ob diese gerne eine Schule besuchen würden, an der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung beschult werden (Singer, 2015).

Bei einer Befragung von Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung sowie deren Eltern, welchen Lernort sie sich wünschen, zeigte sich, dass sich mehr als ein Drittel für die inklusive Beschulung aussprachen. Im Diagramm fällt jedoch auf, dass ein sehr großer Teil der Schülerinnen und Schüler (42,2%) und der Eltern (37,9%) bei der Beantwortung der Frage unsicher war bzw. keine der Antworten geben wollte. In einer differenzierteren Befragung innerhalb der Studie von Singer (2015) wurde deutlich, dass sich viele dieser Befragten für eine inklusive Beschulung entscheiden würden, wenn an den inklusiven Schulen die von den Kindern und Jugendlichen benötigten Bedingungen gegeben wären.

Mehr-Ebenen-Modell schulischer Inklusionsbedingungen im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (Lelgemann, Lübbeke, Singer & Walter-Klose, 2012, S. 75).

Unter welchen Bedingungen kann das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung gelingen? Lelgemann, Lübbeke, Singer und Walter-Klose (2012)  habe diese Frage betroffenen Schülerinnen und Schülern, ihren Eltern und ihren Lehrkräften an Förderschulen und an integrativen/inklusiven Schulen gestellt. Im Ergebnis, dargestellt in der Abbildung, konnten sie zahlreiche inklusionsförderliche Bedingungen ermitteln; diese lassen sich auf vier Ebenen anordnen und sie sind "im konkreten Schulalltag ... unmittelbar miteinander verflochten und bedingen sich wechselseitig" (Lelgemann, Walter-Klose, Lübbeke & Singer, 2012, S. 169). Auch wenn sich einige der von den Befragten genannten Bedingungen kritisch diskutieren ließen und sich nicht jede Bedingung in jeder Schule kurzfristig herstellen lässt, lohnt ein eingehender Blick auf das Modell.


Sie können den Abschlußbericht zum Forschungsprojekt, aus dem das Vier-Ebenen-Modell hervorgegangen ist, auf den Seiten des Landschaftsverbands Rheinland nachlesen: https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/schulen/inklusionspauschale_neu/pdfs/Forschungsbericht_uni_wuerzburg_zwei_fertig.pdf

Dort finden Sie auch eine für die Schulpraxis aufbereitete Kurzfassung: https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/schulen/inklusionspauschale_neu/pdfs/Qualitaetsbedingungen_schulischer_Inklusion_13-06-2012.pdf


 

Ebene der Haltungen und Einstellungen

Die Haltungen und Einstellungen aller Beteiligten bilden den Kern des Mehr-Ebenen-Modells, sie sind das Fundament schulischer Inklusion (Lelgemann, Walter-Klose, Lübbeke & Singer, 2012, S. 469). Haltungen und Einstellungen werden einerseits von individuellen Erfahrungen und persönlichen Präferenzen geprägt und sie sind andererseits als Reaktionen auf konkrete Bedingungen und Erfahrungen in der schulischen Inklusion zu verstehen.

Inklusion und Heterogenität

Eine positive Haltung und bejahende Einstellung gegenüber beeinträchtigten Schülerinnen und Schülern kann als essentiell für den Prozess der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung betrachtet werden. Eine solche Haltung kann man nicht verordnen, da dies meist zu Ablehnung und Gegenwehr führt, sie entsteht auf der Basis von persönlicher Erfahrung. Die Umstellung zur inklusiven Beschulung braucht folglich Zeit, damit sich die Lernenden und die Lehrenden mit den Gegebenheiten vertraut machen können, sich mit Ängsten und Befürchtungen auseinandersetzen und positive Erfahrungen im Zusammenleben mit beeinträchtigten Kindern gewinnen können.

Umgang mit Behinderung

Im Sinne des sozialen Lernens sollte der Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander bewusst gestaltet und begleitet werden. Dabei können besondere Angebote wie Anti-Mobbing-Training, Klassenratsstunden oder die verstärkte Zusammenarbeit mit den Eltern helfen. Besonders wichtig ist ein offener und natürlicher Umgang mit Beeinträchtigungen oder Erkrankungen. Vereinbarungen zum  Nachteilsausgleich sollten offengelegt, erläutert und mit allen Lernenden besprochen werden, damit nicht durch Unverständnis Neid und Missgunst entstehen. Um Stigmatisierungen zu vermeiden oder Möglichkeiten des solidarischen Austauschs untereinander zu schaffen, empfiehlt es sich, mehrere Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen in einer Klasse aufzunehmen. Kinder und Lehrpersonen sollten grundsätzlich akzeptieren, dass diese Schülergruppe besondere körperliche Bedürfnisse hat und Ruhephasen, erhöhte Fehlzeiten oder die Behandlung besonderer Themen (s.u.) benötigt.

Haltung zum Unterricht

Durch die erhöhte Heterogenität der Schülerschaft ergibt sich die Notwendigkeit der Veränderung von Unterrichtsprozessen. Gegebenenfalls befinden sich nun Schülerinnen und Schüler mit zieldifferenten Bildungsgängen in der Klasse, an die der Unterricht angepasst werden muss. Zudem ist in inklusiven Settings häufig eine zweite Lehrkraft anwesend, mit der sich der Unterricht ebenfalls organisatorisch und strukturell ändert. Positive Einstellungen und Haltungen der Lernenden und der Lehrenden seien wichtig, schreiben Lelgemann, Walter-Klose, Lübbeke und Singer (2012, S. 470), aber ein positives soziales Klima könne sich nur entwickeln, wenn an einer inklusiv arbeitenden Schule förderliche Bedingungen geschaffen worden sind:

Die Frage der Haltung und Einstellung ist ... keine bloße Frage des Wollens. Vielmehr bedarf es hierfür konkreter Bedingungen, die sich im Sinne von Vorteilen für alle Beteiligte beschreiben lassen müssen. Umso ungünstiger die Einstellungen und Haltungen sind oder umso größere Ängste und Unsicherheiten bestehen, desto eher bedarf es des Vorhandenseins bzw. der Schaffung günstiger Bedingungen in den aufnehmenden Schulen - dies nicht bloß für die Schülerinnen und Schüler, sondern gerade auch zur Unterstützung der dort tätigen Lehrkräfte.

Unterrichtsbezogene Ebene

Die strukturellen Bedingungen, unter denen inklusiver Unterricht realisiert wird, ermöglichen bzw. begrenzen die Realisierbarkeit von differenziertem Unterricht, der dem besonderen Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung entspricht. Sie sind wichtige Voraussetzungen, auch wenn über Erfolg und Versagen der Inklusion letztendlich entscheidet, was real im Unterricht geschieht.

Inklusive Unterrichtsgestaltung

Angesichts extremer Heterogenität sind gleichschrittiges Arbeiten und einheitliche Vergleichsarbeiten in einer Jahrgangsklasse nicht möglich, binnendifferenzierende Formen der Unterrichtsgestaltung werden zentrale Elemente inklusiven Unterrichts. Differenziert werden muss in Bezug auf Inhalte, Methoden und Materialien, nicht selten bis zum Unterricht in den zieldifferenten Bildungsgängen Lernen oder Geistige Entwicklung. Darüber hinaus sind für Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung spezifische Themen wichtig, vor allem die Vermittlung lebenspraktischer Kompetenzen, die besonderen Möglichkeiten der Berufswahl und der beruflichen Integration und der Umgang mit der eigenen Beeinträchtigung im Alltag.

Personelle Voraussetzungen

Als wesentliche Bedingung einer gelingenden Inklusion wird eine möglichst durchgehende Doppelbesetzung des Unterrichts mit einer allgemeinen und einer sonderpädagogischen Lehrkraft erachtet. Die Lehrkraft für sonderpädagogische Unterstützung kann im Unterricht, in der Beratung der allgemeinbildenden Lehrkräfte, in der Elternarbeit und bei der Diagnostik, Hilfsmittelversorgung oder Anpassung von Arbeitsmaterialien ihre fachlichen Kompetenzen einbringen. Sie sollte, möglichst in gemeinsamer Klassenlehrerfunktion, einer bestimmten Lerngruppe angehören, damit auf Klassenebene der Aufbau fester sozialer Beziehungen möglich wird, der sich für alle Kinder und Jugendlichen und insbesondere für Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen entwicklungsförderlich auswirkt.

Klassengröße

Eng verbunden mit der Frage der inklusiven Unterrichtsgestaltung ist die Größe der Klasse bzw. Lerngruppe. Kleine Lerngruppen mit 10 bis 14 Schülerinnen und Schülern, wie sie etwa an Förderschulen mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung zu finden sind, sind bei komplexen Behinderungen zu empfehlen, ansonsten sollten Lerngruppen mit maximal 24 Kindern gebildet werden (Lelgemann, Walter-Klose, Lübbeke & Singer, 2012, S. 470).

Schulstrukturelle und schulorganisatorische Ebene

Eine inklusive Schule, die Kinder mit motorischen Behinderungen aufnehmen möchte, braucht spezifische Bildungsangebote, fachlich qualifiziertes Personal für Pflege und Schulbegleitung, eine passende räumliche und sachliche Ausstattung und eine kommunikative Kultur innerhalb der Schule und mit den Eltern und Erziehungsberechtigten.

Angebotsstrukturen
  • Therapeutische und pflegerische Angebote an den Schulen führen zu einigen Vorteilen, wie beispielsweise dem Einbringen beeinträchtigungsspezifischer Fachkenntnisse seitens der Therapeuten, kurzen Wege zwischen Therapie und Unterricht, einer verstärkten Rücksichtnahme auf persönlich-emotionale und körperliche Voraussetzungen im Unterricht sowie der Eröffnung von spezifischen Bildungsangeboten (s.o., Inklusive Unterrichtsgestaltung).
  • Ein Ganztagsangebot an Schulen führt zu einer Entlastung der Situation zu Hause, besonders hinsichtlich der Hausaufgaben, und erlaubt eine enge Verzahnung mit dem Therapieangebot.
  • Schulsozialarbeit kann das Gelingen schulischer Inklusion und das soziale Leben an der Schule überhaupt fördern. Bei Problemen jeglicher Art, die im Schulalltag auftreten, kann ein soziales Netz aus Beratungslehrern, Sozialarbeitern oder auch Schulpsychologen tätig werden, um geeignete Lösungen zu finden, die beispielsweise in fachunabhängigen Unterrichtseinheiten umgesetzt werden.
  • Berufswahlvorbereitung stellt ein wichtiges Angebot für Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf körperliche und motorische Entwicklung dar und sollte an  inklusiven Schulen implementiert werden.
Personelle, baulich-räumliche und sächliche Bedingungen
  • Therapeuten und Pflegekräften, Mitarbeitenden im Ganztagsangebot, in der Schulsozialarbeit, in der Sozialpädagogik und in der Schulpsychologie kommt in der schulischen Inklusion eine große Rolle zu, gerade auch, um spezifische Probleme der Lernenden außerunterrichtlich auffangen zu können - hilfreiche Angebote für alle Kinder und Jugendlichen und besonders wichtig für Lernende mit Unterstützungsbedarf.
  • Unterrichtsbegleitung kann nur dann gewinnbringend in der schulischen Inklusion eingesetzt werden, wenn die Mitarbeitenden ausreichend qualifiziert sind, wenn die Anzahl der Unterrichtsbegleiter innerhalb einer Klasse nicht zu groß ist und wenn deren ständige Präsenz die soziale Interaktion mit den Mitschülerinnen und Mitschülern nicht erschwert.
  • Baulich-räumliche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um die universelle Zugänglichkeit des Schulgebäudes sicherzustellen: Rollstuhlzugänglichkeit mindestens der Räume und Flächen der Schule, die beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler nutzen sollen, Rampen, Aufzüge und automatisch öffnende Türen, Ruhe- und Rückzugsräume, Arbeits- und Beratungsräume, fachgerecht ausgestattete Therapieräume und behindertengerechte Sanitärräume.
  • Sächliche Bedingungen betreffen die Ausstattung der Schule. Erforderlich ist adaptiertes Mobiliar, angepasste persönliche, auch technische Hilfsmittel, Geräte zur Unterstützten Kommunikation, individuell erstellte Arbeitsmaterialien, sowie physio- und ergotherapeutische Hilfsmittel. Zum Teil sind dies Krankenkassenleistungen, die gemeinsam mit dem Sonderpädagogen- bzw. Therapeutenteam beantragt werden können.
Sozial-kommunikative Prozesse und Strukturen

Strukturen zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den Berufsgruppen wie Mitarbeiterrat, pädagogisch-therapeutische Konferenzen, Klassenteams etc. helfen, den Informationsfluss möglichst intensiv zu gestalten und dabei auch einzelne Schüler bzw. Schülerinnen mit Unterstützungsbedarf im Blick zu behalten. Von zentraler Bedeutung ist eine kontinuierliche Beratung der allgemeinen und der sonderpädagogischen Lehrkräfte, hilfreich sind externe und interne Fortbildungsangebote. Darüber hinaus ist eine intensive und wertschätzende Kooperation zwischen Schule und Elternhaus besonders wichtig,innerhalb derer das Fach- und Erfahrungswissen der Eltern ernst genommen und auf vielfältige Weise in das Schulleben eingebunden werden kann.

Außerschulische Ebene

Die Ausweitung schulischer Inklusion für Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf körperliche und motorische Entwicklung wird in der fachlichen, in der politischen und in der öffentlichen Diskussion begrüßt und zunehmend positiv beurteilt. Die Anzahl an Plätzen zur inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schüler mit entsprechendem Unterstützungsbedarf wird in den letzten Jahren auch in der Sekundarstufe I deutlich ausgebaut. So wird die freie Wahl des Lernortes, auch wohnortnah, immer problemloser.

Andererseits werden Sinnhaftigkeit und Möglichkeiten der Inklusion je nach Schwere einer Beeinträchtigung immer mehr in Frage gestellt. Die Lehrkräfte an allgemeinen Schulen sind oft verunsichert und befürchten Überforderung, wenn sie auf persönlicher Ebene bisher wenige bis keine Erfahrungen mit Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf sammeln konnten oder sich auf schulischer Ebene nicht ausreichend vorbereitet fühlen. So antwortete ein Großteil der Lehrkräfte auf die Frage, wie schnell die schulische Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Unterstützungsbedarf körperliche und motorische Entwicklung umgesetzt werden sollte mit „innerhalb der nächsten 2-3 Jahre“ (19,5% der Lehrpersonen an inklusiven Schulen) bis zu „innerhalb der nächsten 10 Jahre“ (39% der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen). Wünschenswert wäre also eine umfassende konzeptionelle Vorbereitung auf die neue Situation, die diese Unsicherheiten beseitigen kann (Lelgemann, Lübbeke, Singer & Walter-Klose, 2012, S. 245).

Antworten der Sonderpädagogen und Lehrkräfte an integrativen Schulen, wie schnell die schulische Inklusion von SuS mit Förderbedarf körperliche und motorische Entwicklung erfolgen sollte (Lelgemann, Lübbeke, Singer & Walter-Klose, 2012, S. 245)

 

Diese Seite wurde mit Unterstützung von  Dr. Ria-Friederike Kirchhof
vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ erstellt.