Es ist laut in der Klasse. Janine beleidigt ihre Sitznachbarin und kommentiert lautstark jede Äußerung der Lehrerin. Jussuf geht, ohne zu fragen, an den Computer und spielt ein Spiel. Lucas prügelt sich mit Marcel.


Fast jede Lehrkraft kennt solche oder ähnliche Situationen aus dem eigenen Unterricht. Was haben diese drei Situationen gemeinsam?

In allen Fällen zeigen die Schülerinnen und Schüler Verhaltensweisen, die sicherlich nicht den Klassenregeln entsprechen und andere Lernende und die Lehrkraft ablenken oder stören, was auch die Kinder, die das auffällige und grenzüberschreitende Verhalten zeigen, daran hindert, dem Unterricht aufmerksam zu folgen. Regelverletzendes Verhalten ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Dies trifft sowohl dann zu, wenn die emotionale und soziale Entwicklung in einem solchen Maße beeinträchtigt ist, dass eine Diagnose des Förderschwerpunkts Emotionale und soziale Entwicklung vorliegt, als auch bei herausforderndem Verhalten, das von Kindern oder Jugendlichen ohne entsprechende Diagnose – und dann häufig in einem weniger ausgeprägten Maße – gezeigt wird.

Herausforderndes Verhalten kann sich in unterschiedlicher Weise äußern. Vielfältige Faktoren können ursächlich dafür verantwortlich sein, dass herausfordernde Verhaltensweisen ausgelöst bzw. aufrechterhalten werden oder gar in ihrer Quantität oder Intensität zunehmen. Anhand der folgenden Fallbeispiele soll die Vielfältigkeit der Form und der Ursachen von herausforderndem Verhalten verdeutlicht werden. 


1. Patrick (7 Jahre)

Patrick besucht seit ein paar Wochen die erste Klasse der örtlichen Grundschule. Die Familie (Vater, Mutter und sechs Kinder) lebt von Arbeitslosengeld 2 und wohnt in einer ehemaligen Kneipe auf dem Dorf. Eines Tages bemerkt die Klassenlehrerin zufällig, dass Patrick nicht die Schultoilette benutzt, sondern sich an einem Baum auf dem Schulhof erleichtert, wenn er Harndrang verspürt. Sie stellt ihn erbost zur Rede. Patrick versteht nicht, warum sein Verhalten nicht in Ordnung sein soll. Bei ihm zu Hause benutzen alle Jungen und der Vater für das „kleine Geschäft“ den Garten, um Wasser zu sparen. Das von der Lehrkraft als regelverletzend interpretierte Verhalten resultiert in diesem Fall daraus, dass möglicherweise keine Transparenz hinsichtlich der Verhaltensregeln in der Schule besteht.
 

2. Alexander (9 Jahre)

„Hey du Spacko, mach mal Platz!“, brüllt Alexander und gibt Merlin einen heftigen Schlag auf den Rücken. Merlin schmerzt der Schlag und er lässt es sich nicht gefallen, dass jemand so mit ihm umgeht. So entsteht im Handumdrehen eine Prügelei. Im Gespräch mit der aufsichtführenden Lehrkraft stellt sich heraus, dass Alexander eigentlich gerne mit Merlin spielen wollte, aber nicht wusste, wie er anders auf ihn zugehen könnte. Also imitierte er das Verhalten seines Vaters und das von dessen Freunden. In diesem Fall kommt es zu regelverletzendem Verhalten, weil eine angemessenere Verhaltensalternative noch nicht zum Verhaltensrepertoire des Kindes gehört. Auch in diesem Fall ist es nicht sinnvoll, das unerwünschte Verhalten lediglich zu sanktionieren. Das Gespräch hat gezeigt, dass entsprechende Verhaltensalternativen aufgezeigt oder gemeinsam erarbeitet und entsprechend eingeübt werden müssen.
 

3. Josy (8 Jahre)

Josy hat drei Brüder und stammt aus einer sehr patriarchalisch ausgerichteten Familie. Der Vater bestimmt alles, was in der Familie gemacht wird und ist sehr stolz auf seine drei Jungs. Mit ihnen geht er Fußball spielen oder schaut Fernsehen. Josy beachtet er nicht. Ihre Mutter hat genug damit zu tun, sich um den Vater und Josys Brüder zu kümmern und hat dadurch ebenfalls kaum Zeit für Josy. In der Schule fällt Josy auf, weil sie den Unterricht häufig durch lautes Reinrufen stört oder unerlaubt aufsteht, durch den Klassenraum läuft und andere Kinder ärgert. Zurechtweisungen der Lehrkraft scheinen sie nicht zu stören - im Gegenteil, sie scheint sie förmlich herauszufordern. In diesem Fall scheint für Josy jegliche Form von Aufmerksamkeit besser zu sein als keine, auch wenn es sich hierbei um eine Zurechtweisung handelt, weil sie sich dann endlich wahrgenommen fühlt.
 

4. René (9 Jahre)

Zur Mitte des Schuljahres ist René mit seiner Familie nach NRW gezogen. In seiner alten Schule fühlte er sich wohl und akzeptiert, auch wenn sich hier schon erste Lernschwierigkeiten, vor allem im Fach Mathematik, zeigten. An der neuen Schule ist das Lerntempo höher und René hat oft Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Vor allem bei Spielen wie dem Eckenrechnen fühlt er sich bloßgestellt, weil er so langsam ist, dass er aus seiner Ecke nicht herauskommt. Sein Frust ist eines Tages so groß, dass er bei der Ankündigung, dass nun Eckenrechnen gespielt würde, seine Hefte und Stifte quer durch das Klassenzimmer wirft. Seine Lehrkraft schickt ihn daraufhin in den Trainingsraum, damit er dort in Ruhe über sein Verhalten nachdenken soll. Aus Sicht von René hat sich sein regelverletzendes Verhalten gelohnt: kein Rechnen, keine erlebte Frustration und kein Gefühl der Bloßstellung.


Wie die unterschiedlich gelagerten Fallbeispiele zeigen, kann herausforderndes Verhalten aus der subjektiven Sicht des Kindes sinnvoll sein, selbst wenn damit negative Konsequenzen einhergehen. Die Fallbeispiele verdeutlichen auch, dass es in Teilen sehr subjektiv ist, welche Verhaltensweisen als herausfordernd empfunden werden. Die Interpretation hängt in starkem Maße von der jeweiligen Situation und den beteiligten Menschen ab. So empfinden es einige Lehrkräfte unter Umständen bereits als herausforderndes Verhalten im Unterricht, wenn ein Kind eine Kappe auf dem Kopf trägt, während dies bei anderen möglicherweise erst dann der Fall ist, wenn Lernende verbal ausfällig oder handgreiflich werden.

Nehmen Sie sich gern ein paar Minuten Zeit, die folgenden Fragen für sich persönlich zu beantworten:

  • Wann würden Sie persönlich eine Verhaltensweise eines Kindes oder Jugendlichen als herausfordernd bezeichnen?
  • Wie, denken Sie, nehmen Kinder oder Jugendliche, die herausfordernde Verhaltensweisen zeigen, die spezifische Situation in Ihrem Mathematikunterricht wahr?
  • Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung auch mal herausfordernde Verhaltensweisen zeigen. Ab wann ist herausforderndes Verhalten aus Ihrer Sicht so problematisch, dass zusätzliche Unterstützung im Rahmen einer sonderpädagogischen Förderung notwendig ist?
  • Was wissen Sie bereits über Möglichkeiten der Diagnostik im Kontext von herausforderndem Verhalten bzw. zur Diagnose eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung?
  • Welche Maßnahmen kennen Sie bereits, die sich zur Prävention bzw. Intervention im Kontext von herausforderndem Verhalten bzw. bei einem diagnostizierten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung als sinnvoll, praktikabel und wirksam erwiesen haben?
     

Diese Fragen sollen in den nächsten Abschnitten im Fokus stehen. Im folgenden Teilmodul Unterricht soll aufgezeigt werden, mit welchen Mitteln auch im Mathematikunterricht dazu beigetragen werden kann, herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen (Prävention). Außerdem zeigt das Kapitel Möglichkeiten auf, wie mit herausforderndem Verhalten im Schulalltag (insbesondere im Mathematikunterricht) umgegangen werden kann und was dazu beitragen kann, dass auch Schülerinnen und Schüler, die häufiger herausforderndes Verhalten zeigen oder bei denen ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung diagnostiziert wurde, erfolgreicher am Unterricht und an sozialen Interaktionen in der Schule teilnehmen können.


Möchten Sie gerne weitere Fallbeispiele durchdenken, welche die besonderen Unterstützungsbedarfe im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung beschreiben? Auf der Webseite der Qualitäts- und UnterstützungsAgentur - Landesinstitut für Schule des Landes Nordrhein-Westfalen (QUA-LiS NRW, 2019) finden sich in der Arbeitshilfe „Matrix emotionaler und sozialer Kompetenzen“ (MesK) sechs Fallbeispiele aus der Schulwirklichkeit ausführlicher dargestellt und hinsichtlich exemplarischer Möglichkeiten der Diagnostik und der Förderung analysiert.

Verfügbar unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/upload/Inklusion/mesk/Matrix_emotionaler_und_sozialer_Kompetenzen_-_online.pdf


 

Diese Seite wurde von Prof. Dr. Anna-Maria Hintz, Petra Breuer-Küppers
und Dr. Michael Paal erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.