Ein wichtiger Bestandteil eines diagnosegeleiteten sowie förderorientierten Unterrichts ist der Einsatz geeigneter Diagnose- und Förderaufgaben. Da Diagnose und Förderung untrennbar zusammenhängen, geht auch der konkrete Einsatz beider Aufgabentypen im Unterricht häufig direkt ineinander über. Aufgrund der differenzierten Zielsetzung ist aber trotzdem eine Unterscheidung notwendig. Für eine erfolgreiche Anwendung im Unterricht ist es demnach essentiell sich ihre Gegensätze bewusst zu machen. Die folgende Übersicht (vgl. Selter, 2017) soll zunächst kurz die Unterschiede darstellen, um im Anschluss die beiden Aufgabentypen und ihre Gemeinsamkeiten konkreter erläutern zu können:

  Diagnoseaufgabe Förderaufgabe
Ziel Denkwege und Vorgehensweisen verstehen Lernfortschritte ermöglichen
Aufgabenstellung soll bearbeitet werden soll erfolgreich gelöst werden
Erklärungen weitestgehend vermeiden, nur Aufgabenverständnis sichern im Bedarfsfall notwendig, bedürfen aber der aktiven Einordnung in das bestehende Wissensnetz der Kinder
Fragen und Impulse dienen der Auslotung des Verständnisses dienen der aktiven Entwicklung des Verständnisses
Hilfen als Unterstützung zum Darstellen der eigenen Denkwege als Unterstützung zum Selbstfinden von Erkenntnissen
Fehler können stehen bleiben sollen analysiert und überwunden werden
Rückmeldung lernstands- und sachorientiert lernprozess- und sachorientiert
Tabelle 1: Unterschiede von Diagnose- und Förderaufgaben
 
Im Folgenden soll konkreter auf die Zielsetzungen und zu beachtender Kriterien beider Aufgabentypen im Unterricht eingegangen werden. Dies geschieht der Übersichtlichkeit halber separat voneinander.

 

Diagnoseaufgaben

Das Ziel einer Diagnoseaufgabe ist es, den Denkweg oder die Vorgehensweise eines Kindes zu verstehen, um daraus Informationen über seine mathematische Kompetenz zu gewinnen sowie möglicherweise Fördermaßnahmen aus diesen Erkenntnissen abzuleiten. Wichtig ist, dass es sich immer um eine kompetenzorientierte Diagnose (vgl. ‚Diagnosemomente und Fördermomente‘, s. auch Scherer, 1999;  Wartha & Schulz, 2012) handelt. Die Aufgaben sollten keinesfalls nur die Defizite des Kindes offenbaren, sondern auch immer die schon vorhandenen Kompetenzen aufzeigen, anhand derer dann mit Hilfe von entsprechenden Förderaufgaben (s. Kapitel 2.2) aufgebaut werden kann.

Grundsätzlich kann jede „gute Aufgabe“ bzw. jedes Schülerdokument zur Diagnose herangezogen werden. Entscheidend ist aber immer, was mithilfe einer Aufgabe konkret in Erfahrung gebracht werden soll, beispielsweise die Details zur Vorgehensweise oder die Indizien über Kompetenzen im prozessbezogenen Bereich. Daher ist oft ein wenig Adaption notwendig, damit die Aufgabe dem konkreten Diagnosezweck dienlich ist.
Als Unterstützung zum Einsatz von Diagnoseaufgaben im Unterricht können folgende Planungsschritte dienen:

Planungsschritte für den Einsatz von Diagnoseaufgaben

  1. Mathematische Inhalte festlegen, Schwerpunkte setzen und konkretisieren
    • Auf Grundlage des (bevorstehenden) Unterrichtsinhalts und der Lernvoraussetzungen der Kinder wird der mathematische Inhalt festgelegt z.B. „Zahlen und Operationen“ mit dem Schwerpunkt „Operationsvorstellungen“ (MSW, 2008, S.61).
      Beispielsweise können in der dritten Klasse Diagnoseaufgaben zur Addition und Subtraktion im Tausenderraum Anwendung finden.
  2. Geforderte Kompetenz(en) auswählen
    • Daraufhin werden Kompetenzen des Lehrplans ausgewählt, welche für den gewählten mathematischen Inhalt wesentlich sind z.B. „ordnen Grundsituationen (z.B. dem Hinzufügen oder dem Wegnehmen) Plusaufgaben oder Minus- bzw. Ergänzungsaufgaben zu.“ (MSW, 2008, S. 61)
  3. Aufgabe(n) und Material auswählen
    • Ausgehend vom Inhalt und den zugehörigen Kompetenzen werden nun entsprechende Diagnoseaufgaben herausgesucht oder Aufgaben so adaptiert, dass sie als Diagnoseaufgaben fungieren können (s. Kriterien unten). Zudem kann Anschauungs- und Darstellungsmaterial (z.B. Rechenrahmen) entsprechend des diagnostischen Schwerpunkts ausgewählt werden.
  4. Zielgerichtet und förderorientiert diagnostizieren
    • Das Ziel des Einsatzes von Diagnoseaufgaben ist es, Kompetenzen aber auch Schwierigkeiten zu ermitteln, um eine möglichst umfassende Diagnose gewährleisten zu können, welche konkrete Ansatzpunkte zur Förderung liefert. Dies sollte bei der Zusammenstellung der Aufgaben immer berücksichtigt werden.
  5. Dokumentieren und Auswerten
    • Um die Kompetenzen und Schwierigkeiten der Kinder genau im Blick zu behalten und nicht nur den aktuellen Stand, sondern auch die Lernentwicklung in die Förderung miteinbeziehen zu können, sollten Ergebnisse protokolliert (beispielsweise mit Hilfe eines Leitfadens, s. Unterricht) und hinsichtlich weiterer Fördermöglichkeiten ausgewertet werden.
 

Da sich nicht immer jede Aufgabe direkt als Diagnoseaufgabe eignet, können folgende Kriterien (vgl. Sundermann & Selter, 2006, S.74f.) dabei helfen, eine Aufgabe auf ihr diagnostisches Potenzial hin zu beurteilen:

  • Kriterium der Informativität: Wie informativ ist das Kinderdokument am Ende? Geht es nur darum, ein Ergebnis zu notieren (s. Einstieg) oder ist die Vorgehensweise relevant?
  • Kriterium der Offenheit: Sind variable Ergebnisse auf unterschiedlichem Niveau möglich? Gibt es verschiedene Zugänge zur Aufgabe?
  • Kriterium des Prozessbezugs: Werden prozessbezogene Kompetenzen wie das Darstellen und Entdecken angesprochen?

Hierbei ist zu erwähnen, dass nicht bei jeder Aufgabe alle Kriterien Berücksichtigung finden müssen. Wie im Einstieg aufgezeigt, wird durch das Hinzufügen des Satzes „Beschreibe, wie du 667-49 gerechnet hast.“  die Aufgabe wesentlich informativer, wodurch sie bedeutend mehr diagnostisches Potenzial bietet als vorher. Da mit der Erhöhung des Diagnosepotenzials auch oft die kognitiven Anforderungen steigen, sollte versucht werden, die Schwierigkeitssteigerung möglichst minimal zu halten (vgl. Büchter & Leuders, 2005).

Im Schulalltag ist es oft notwendig, Schulbuchaufgaben zu adaptieren, damit sie zur kompetenz- und verstehensorientierten Diagnose überhaupt nützlich sind (s. auch ‚Aufgaben adaptieren‘). Neben der Berücksichtigung der oben aufgeführten Kriterien können die folgenden „Werkzeuge“ (Büchter & Leuders, 2005, S. 181) dabei eine hilfreiche Unterstützung sein:

  • Reduktion einer komplexen Aufgabe auf die zu interessierenden Aspekte
  • Öffnung von Aufgaben, damit statt eines einzelnen erwarteten Lösungsweges individuelle Wege möglich werden (s. auch ‚Offene Aufgaben’)
  • Anregung bzw. Aufforderung zu Eigenproduktionen
  • Einforderung von Reflexionen wie Beschreiben, Erklären oder Begründen des Vorgehens

Förderaufgaben

Das Ziel einer Förderaufgabe ist es, dem Kind Lernfortschritte zu ermöglichen, um an die Zone der nächsten Entwicklung (vgl. Wygotski, 1987) anzuknüpfen. Wichtig ist, dass sich die Förderaufgaben zum einen an den aus der Diagnose gewonnenen Erkenntnissen orientieren, also an den Verstehensgrundlagen der Kinder ansetzen (vgl. Prediger, Freesemann, Moser Opitz & Hußmann, 2013) und zum anderen mit den durchgeführten Diagnoseaufgaben in einem engen Zusammenhang stehen sollten, da Diagnose und Förderung trotz unterschiedlicher Zielsetzungen nur im gemeinsamen Einsatz erfolgversprechend sein können.

Grundlage zur Auswahl geeigneter Förderaufgaben ist zudem, neben den Defiziten vor allem die schon vorhandenen Kompetenzen festgestellt zu haben (kompetenzorientierte Förderung). So können Aufgaben ausgewählt werden, die das Kind herausfordern (nicht aber überfordern) und zugleich Könnenserfahrungen ermöglichen. Auch hier liegt im Sinne der Prozessorientierung der Fokus auf dem Austausch über Lösungsprozesse, weshalb die Kinder immer wieder ermutigt werden sollten, ihre Gedanken offenzulegen (s. „Werkzeuge“ unten). Grundsätzlich kann jede „gute Aufgabe“ zur Förderung herangezogen werden, je nachdem welches Förderziel verfolgt wird. Oft ist lediglich ein wenig Adaption notwendig, damit die Aufgabe dem konkreten Förderzweck dienlich ist.
Als Unterstützung zum Einsatz von Förderaufgaben im Unterricht können folgende Planungsschritte dienen:

Planungsschritte für den Einsatz von Förderaufgaben

  1. vorher gesetzte Diagnoseschwerpunkte zur Förderung weiter konkretisieren
    • Auf Grundlage der Auswertung der Diagnoseaufgabe(n) und des (bevorstehenden) Unterrichtsinhalts z.B. „Zahlen und Operationen“ mit dem Schwerpunkt „Operationsvorstellungen“ (MSW, 2008, S.61) wird der Schwerpunkt für die Förderung weiter konkretisiert z.B. Operationsvorstellung im Bereich der Subtraktion.
  2. Geforderte Kompetenz(en) auswählen
    • Daraufhin werden Kompetenzen des Lehrplans ausgewählt, welche zur Erreichung des Förderschwerpunkts wesentlich sind z.B. „L. ordnet Grundsituationen Minus- bzw. Ergänzungsaufgaben zu.“ (MSW, 2008, S. 61)
  3. Aufgabe(n) und Material auswählen
    • Ausgehend vom Inhalt und den zugehörigen Kompetenzen werden nun entsprechende Förderaufgaben herausgesucht oder ggf. Aufgaben so adaptiert, damit sie als Förderaufgaben fungieren können (s. Leitideen unten). Zudem sollte Anschauungs- und Darstellungsmaterial (z.B. Rechenrahmen) entsprechend des Förderschwerpunkts ausgewählt werden.
  4. Zielgerichtet und diagnosegeleitet fördern
    • Das Ziel des Einsatzes von Förderaufgaben ist eine individuelle Förderung des Kindes zur bestmöglichen Potenzialentfaltung. Die Zielorientierung sollte bei der Zusammenstellung der Aufgaben immer im Blick behalten werden. Um sich möglichst an der Entwicklung des Kindes zu orientieren und eine gezielte Förderung zu ermöglichen, sollte die Lehrkraft auch weiterhin diagnostisch tätig sein und die weiteren Fördervorhaben am Entwicklungsverlauf ausrichten (s. ‚Planung von Förderung‘).
  5. Dokumentieren und Auswerten
    • Nicht nur bei der vorangegangenen Diagnose, sondern auch im Verlauf der Förderung sollten Auffälligkeiten und Entwicklungen dokumentiert werden, um eine zielgerichtete und diagnosegeleitete Förderung, welche sich nah an der Lernentwicklung des Kindes orientiert, zu ermöglichen.

Da sich nicht immer jede Aufgabe direkt als Förderaufgabe eignet, können folgende Leitideen (Hußmann, Nührenbörger, Prediger & Selter, 2014) dabei helfen, eine Aufgabe auf ihr Förderpotenzial hin zu beurteilen:

  • diagnosegeleitet: Die vorher diagnostisch erhobenen Kenntnisse werden als Grundlage bei der Auswahl der Förderaufgaben genutzt, um gezielt fördern zu können (vgl. Sundermann & Selter, 2006).
  • verstehensorientiert: Die Förderaufgaben dienen dem Aufbau von Verständnis. Dies ist wichtig, da oft bei schwächeren Lernenden die Verstehensgrundlagen fehlen, die mathematischen Basiskompetenzen also noch nicht gesichert werden konnten.
  • kommunikationsfördernd: Um ein Verständnis aufzubauen, ist eine Kommunikation über die Inhalte unabdingbar. Die Förderaufgaben sollten daher so konzipiert oder gewählt werden, dass der Austausch über Vorgehensweisen, Denkwege etc. möglich ist.

Insbesondere bei der Adaption von Aufgaben (s. auch ‚Aufgaben adaptieren‘) zu gehaltvollen Förderaufgaben sollten diese Leitideen immer beachtet werden. Eine Konzentration auf den Basisstoff d.h. zentrale Kernthemen wie beispielsweise die Auseinandersetzung mit Anzahlen oder die Entwicklung des Zahlbegriffs (vgl. Häsel-Weide & Nührenbörger, 2017) ist zudem empfehlenswert. Wesentlich ist jedoch in erster Linie sich bewusst zu machen, welchem Zweck die Förderaufgabe dienen soll. Man kann zwischen Aufgaben zum Erarbeiten und Aufgaben zum Üben unterscheiden. Aufgaben zum Erarbeiten bedürfen oft einer Moderation durch die Lehrkraft, Aufgaben zum Üben können häufig auch von den Lernenden selbständig in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit bearbeitet werden (vgl. Hußmann, Nührenbörger, Prediger & Selter, 2014).
 
Ähnlich wie schon bei der Nutzung von Aufgaben als Diagnoseaufgaben, ist oftmals auch bei der Verwendung von Aufgaben als Förderaufgaben eine Anpassung notwendig. Orientiert an den Leitideen für Förderaufgaben, sollen im Folgenden einige „Werkzeuge“ vorgestellt werden, welche je nach zu erfüllender Funktion und Einsatzgebiet genutzt werden können:

  • Handlungsorientierung berücksichtigen, indem z.B. in der Aufgabenstellung Materialarbeit integriert wird („Von der Handlung in den Kopf“) oder Material, das in der Diagnoseaufgabe nur bildlich dargestellt ist, konkret Verwendung findet.
  • Darstellungswechsel initiieren, indem z.B. verschiedene Darstellungen (enaktiv, ikonisch, symbolisch) zu den Förderaufgaben hinzugezogen werden.
  • zum Verbalisieren anregen, indem z.B. Beschreibungen, Erklärungen, Erläuterungen etc. von den Kindern eingefordert werden („Beschreibe deinen Rechenweg“, „Erkläre, warum/wie…“ usw.).
  • tiefergreifende Einsichten anbahnen, indem z.B.  Aufgaben gestellt werden, die operative Veränderungen thematisieren („Was passiert, wenn…“) oder Fragen ergänzt werden, die zum Reflektieren anregen („Warum ist das sinnvoll?“, „Warum macht man das so?“, „Was hilft dir, …“).
  • Diagnoseaufgabe variieren (reduzieren oder erweitern), indem z.B. Zwischenschritte oder Teilaufgaben eingebaut werden oder die Diagnoseaufgabe direkt erweitert bzw. reduziert wird (bspw. statt eines Würfels zwei Würfel einsetzen; s. auch Unterricht).
  • Kommunikation untereinander ermöglichen, indem z.B. Partnerarbeit mittels eines spielerischen Zugangs Anwendung findet (Vierphasenmodell-Karten; Blitzblick-Quartett, usw.).
  • Schülerlösungen einbeziehen, indem z.B. verschiedene Vorgehensweisen präsentiert werden, die die Lernenden nachvollziehen und erläutern sollen („Was meint Jonas?“, „Wie hat Lisa die Aufgabe gelöst?“ usw.).
  • Irritationen erzeugen, indem z.B. das Material bei gleichbleibender Aufgabenstellung variiert (bspw. gleiche Regel aber statt eines Würfels zwei Würfel einsetzen) oder ein fehlerhaftes Muster eingebaut wird.


Beim Einsatz dieser „Werkzeuge“ ist neben der Funktion, welche die Aufgabe letztendlich erfüllen soll, schließlich auch die individuelle Voraussetzung beim Lernenden wesentlich. Für manche Kinder sind die Reduktion der Diagnoseaufgabe und das Hinzuziehen von Material notwendig und das Nutzen von Lösungen anderer Kinder oder Irritationen zunächst hinderlich. Bei anderen Kindern, die beispielsweise schon zwischen Darstellungen wechseln können, aber tiefgreifende Einsichten aufbauen sollen, können Irritationen oder Lösungen anderer Kinder wiederum dabei helfen, vorhandenes Wissen neu zu strukturieren.

Wie aus den obigen Ausführungen deutlich hervorgeht, bringt der duale Einsatz von Diagnose- und Förderaufgaben vielfältige Vorteile mit sich. Auf der folgenden Seite sollen anhand anschaulicher Beispiele aus dem Unterricht Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie Diagnose- und Förderaufgaben ganz konkret im Unterricht eingesetzt werden können.