Um Unterricht für Kinder mit Förderschwerpunkt Sehen zu planen und durchzuführen, ist es hilfreich, wenn man einige Besonderheiten beim Mathematiklernen kennt und berücksichtigt. 

Kinder mit Sehbehinderungen benötigen oft starke Vergrößerungen oder verfügen nur über ein kleines Gesichtsfeld (vgl. dazu das Teilmodul „Vertiefende Informationen – Definitionen und Daten – Begriffsklärungen“). Blinde Kinder nutzen (neben dem Hören) das Tasten, um Informationen über Objekte in ihrer Umwelt zu bekommen. Das bedeutet sowohl bei Sehbehinderung als auch bei Blindheit, dass es länger dauert und kognitiv aufwendiger ist, einen Überblick über etwas zu bekommen, z.B. über Anzahl und Anordnung von Punkten in einem Punktefeld, über ein geometrisches Muster oder ein Diagramm.

1. Rechenschiffchen (2 Fünfer-Holzstreifen mit 5 kreisförmigen Kuhlen, in denen Holzplättchen liegen), 2. Zeichenbrett, 3. Holzpuzzle mit jeweils 2 zusammengehörigen Teilen, links jeweils Würfelbilder mit Moosgummipunkten, rechts jeweils Ziffern in Symbol- und Brailleschrift, 4. 3 Bahnen auf Filz mit Holzplättchen, darauf blaue Box mit Holzplättchen, 5. Pinke Unterlage, links 5 helle Holzplättchen, rechts 2 schwarze Holzplättchen.
Abbildung 4: Adaptierte Materialien

In der Praxis kann es zudem vorkommen, dass passend adaptierte Materialien fehlen, z.B. weil sie nicht schnell genug verfügbar oder nicht leicht zugänglich sind. Insgesamt ergibt sich aus der verringerten Zugänglichkeit von Veranschaulichungen und Materialien ein Risiko für die Entwicklung von Lernschwierigkeiten in Mathematik. Dieses liegt aber nicht in der Blindheit oder Sehbeeinträchtigung selbst begründet, sondern in der Gestaltung des Unterrichts  – es ist also durch Lehrkräfte beeinflussbar, wie im Teilmodul „Unterricht“ gezeigt wird. 

Für unterschiedliche mathematische Inhaltsbereiche ergeben sich ein paar spezifische Lernhürden, die Beachtung finden sollten. 

Eine angemessene Entwicklung von Zahl- und Operationsverständnis ist nicht direkt und automatisch vom Sehvermögen abhängig (Leuders, 2012, 2016). Kinder mit Förderschwerpunkt Sehen können grundsätzlich dasselbe Niveau erreichen wie alle anderen Kinder einer inklusiven Klasse. Dafür ist allerdings gute Förderung wichtig.

Da das familiäre und auch vorschulische Umfeld der Kinder meist auf sehende Menschen ausgerichtet ist, kann es zu einem Mangel an Erfahrungen im Umgang mit Mengen und dem Zählen kommen. Abzählbare Mengen, die taktil, akustisch oder visuell an die Sehbeeinträchtigung angepasst zugänglich sind, sind oft seltener verfügbar und werden von sehenden Spielpartnern (andere Kinder, Eltern, Fachkräfte) auch seltener thematisiert. 

Zudem ist der Zählvorgang anspruchsvoller, wenn der Überblick und damit die Simultanerfassung von Mengen eingeschränkt ist. Strategien für das Zählen, die sicherstellen, dass alle Objekte genau einmal gezählt werden, müssen erst erworben werden und gehen mit der Zählentwicklung einher: z.B. das Wegschieben von bereits gezählten Objekten oder das Nutzen einer räumlichen Struktur für die Orientierung. Eine eingeschränkte Simultanerfassung kann zudem zur Folge haben, dass der Kardinalzahlaspekt und das Teile-Ganzes-Konzept (vgl. https://primakom.dzlm.de/node/129) später oder gar nicht erworben werden, da eine Menge und ihre Teile schwer gleichzeitig erfasst werden können. Es gibt Hinweise, dass dies mit akustischen Mengen (z.B. Klatschen, Glockenschläge) leichter zu erreichen ist als über das Tasten. 

Blinde Kinder zählen meist nicht an den Fingern ab (Crollen et al., 2011). Sie nutzen aber häufig von sich aus andere Wege, um zählend zu rechnen, z.B. das „Zählen und Hören“ (Ahlberg & Csocsán, 1997): Dabei wird im Kopf nachgehalten, wieviel man schon weitergezählt hat. 6+3 würde dann als „7 (1), 8 (2), 9 (3)“ ermittelt werden, ohne dass etwas von außen beobachtbar ist. So macht es auch Martón, den Sie bereits im Teilmodul „Einstieg“ kennenlernen konnten. Er zählt sogar mit deutlich größeren Zahlen, wie er in einem Interview erklärt:


I: Wenn der Bäcker 24 Brötchen backt und es sind 6 übrig, wie viele hat der Dieb geklaut?

M: … 18.

I: Woher weißt du das?

M: Einzeln.

I: Zeig es mir bitte.

M: 23, 22, 21, 20, 19, 18, 17, 16, 15, 14, 13, 12, 11, 10, 9, 8, 7, 6.

I: Woher weißt du, dass das 18 Zahlen sind?

M: In meinem Kopf.
(...) 
I: Wenn dort 9 Brötchen waren und er Bäcker findet nur 5 davon, wie viele sind geklaut worden?

M: 4.

I: Woher weißt du das?

M: 9-4.

I: Ich habe dir die 4 nicht genannt.

M: Aber er fand 5.

I: Aber woher weißt du, dass du 4 subtrahieren musst?

M: …

I: Es waren 9 und es sind 5 übrig. Hast du subtrahiert oder addiert?

M: …

I: Versuch es!

M: Ich sage es mir selbst: 8, 7, 6, 5.

(Ahlberg & Csocsán, 1997)


Daraus ergibt sich zum einen, dass im Unterricht immer wieder diagnostische Vorgehensweisen notwendig sind, um den Erwerb wichtiger Konzepte sicherzustellen. Zum anderen ist es notwendig, gute, zu den Bedürfnissen des Kindes passende Veranschaulichungen zur Verfügung zu haben, wie im Teilmodul „Unterricht“ erläutert wird (vgl. dort besonders die Schritte 2 und 4).

Besonderheiten ergeben sich auch bei den schriftlichen Rechenverfahren. Informationen zur Notation in Braille finden Sie im Teilmodul “Vertiefende Informationen – Medien, Hilfsmittel und Unterrichtsprinzipien – Braille- und Mathematikschrift“. Der Nutzen von schriftlichen Verfahren im Alltag ist wesentlich geringer, wenn ein beiläufiges Aufschreiben der Rechnung nicht möglich ist, weil man dazu eine Brailleschreibmaschine oder starke Vergrößerung benötigt. Da die Verfahren eine wichtige Kulturtechnik darstellen und zudem das mathematische Prinzip des Algorithmus verdeutlichen, werden sie trotzdem behandelt. Die Bedeutung von halbschriftlichen Verfahren und Kopfrechnen ist aber entsprechend höher. 

Die Notation mit der Brailleschreibmaschine ist komplex (vgl. Krombach, 2004), weil man von rechts nach links arbeiten muss und aufgrund der Funktionsweise der Schreibmaschine immer zweimal die Rücktaste drückt für die nächste Ziffer. Deshalb beginnt man in der Regel mit Braillezahlen, die z.B. mit Klett befestigt werden können. 

Links: Zahlen in Brailleschrift auf Plastikplättchen, rechts Brailleschrift auf Papier.
Abbildung 5: Schriftliche Addition in Braille

Der Inhaltsbereich „Raum und Form“ basiert sehr stark auf visuellen Konzepten. Stark sehbeeinträchtigte und blinde Kinder brauchen hier nicht nur leicht zugängliche Materialien, sondern auch Unterstützung bei der Entwicklung angemessener Tast- bzw. Sehstrategien, um z.B. Symmetrien oder Parallelität erkennen zu können. Dazu gehört es z.B. Konturen zu finden und zu verfolgen, oder beide Hände zu nutzen (Lang & Heyl, 2020, S. 127f.). 

Ein guter Geometrieunterricht kann dazu beitragen, dass die Kinder auch ihr Raumverständnis in Bezug auf kleine Objekte und die Orientierung verbessern können. Insbesondere sind verbale Hinweise zur Orientierung im Alltag („Der Raum hat die Form eines Rechtecks“; „Jetzt musst du links im rechten Winkel abbiegen“) nur hilfreich, wenn die dahinterliegenden geometrischen Konzepte verstanden wurden. Auch hier ist es also wiederum wichtig, dass die Materialien visuell bzw. taktil gut strukturiert sind.

In Bezug auf geometrische Körper sollten möglichst immer dreidimensionale Objekte zur Verfügung stehen, da perspektivische Darstellungen schwer zugänglich sind. Zudem können Bewegungen für die Vermittlung genutzt werden. Dies gilt auch für die Thematisierung von raumbezogenen Größen (Länge, Fläche, Volumen).

Geometrisches Zeichnen ist mit Hilfe eines speziellen Zeichenbretts und Kunststofffolie möglich und auch sinnvoll. Der Zeitaufwand dafür ist aber natürlich höher, und die Genauigkeit geringer.

Zeichnen mit Hilfsmitteln wie Zirkeln und Geodreiecken.
Abbildung  6: Zeichnen mit dem Zeichenbrett

Bei der Thematisierung von Sachsituationen sollte immer überlegt werden, inwiefern der Sachkontext zugänglich und den jeweiligen Kindern bereits bekannt ist. Manche Objekte sind der Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich, weil sie weit entfernt sind (Wolken), zu klein sind (kleine Tiere) oder zerbrechlich und daher schwierig zu tasten (Schneeflocken). Auch manche Tätigkeiten sind den Kindern eventuell weniger vertraut als anderen (z.B. Fahrradfahren). In diesem Fall kann es dazu kommen, dass der für die Aufgabe notwendige Erfahrungshintergrund fehlt. Daher sollte man entscheiden, ob man den Kontext wechselt oder ihn angemessen zugänglich machen kann.