Seite "Diagnosegeleitet fördern" in einfacher Sprache
Der Mathematikunterricht sollte Schülerinnen und Schüler jeden Leistungsniveaus individuell fördern. So haben Studien in der Unterrichtsforschung gezeigt, dass Lehr- und Lernprozesse effektiv und nachhaltig gestaltet werden können, wenn sie an individuelle Lernstände der Lernenden anknüpfen (vgl. Helmke, 2012). Auch gerade hinsichtlich der großen Heterogenitätsspanne in inklusiven Lerngruppen ist eine Anknüpfung an individuelle Voraussetzungen unabdingbar.
Ziel eines guten Mathematikunterrichts sollte es demnach sein, fördernde Handlungen durchzuführen, die an den individuellen Lernpotenzialen und Lernbedürfnissen, wie auch den Schwierigkeiten der Lernenden ansetzen (Prediger & Selter, 2008). Um dies zu erreichen, muss didaktisches Handeln auf diagnostischen Erkenntnissen aufgebaut werden (vgl. Weinert, 2000).
Unter diagnostischen Erkenntnissen werden alle Informationen, die Auskünfte über Lernmöglichkeiten, Lernstand, Lernprozesse und Lernerträge der Schülerinnen und Schüler liefern, verstanden (vgl. Hattie, 2013). Die Lehrkraft nimmt hierbei also eine analytische und beobachtende Rolle ein.
In der individuellen Förderung hingegen werden praktische Handlungen seitens der Lehrkräfte aber auch der Kinder verstanden, die unter Berücksichtigung der gemachten diagnostischen Erkenntnisse die Intention haben, einzelne Schülerinnen und Schüler beim Lernen zu unterstützen (vgl. Kunze, 2008).
Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, die eine optimale Potenzialentfaltung und Persönlichkeitsentwicklung aller Schülerinnen und Schüler anstreben (vgl. Fischer, 2014). Die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ist im Schulgesetz als Bestandteil des Bildungs- und Erziehungsauftrags fest verankert, weshalb die Ausübung von diagnostischen und fördernden Tätigkeiten daher auch ein wichtiger Bestandteil des Lehrerberufs ist (vgl. MSW, 2015).
Dabei ist zu betonen, dass Förderung ohne vorangehende Diagnose in der Regel unspezifisch erfolgt, wohingegen Diagnose ohne darauf aufbauende Förderung häufig wirkungslos bleibt und nicht selten zu Stigmatisierung führt (vgl. Hußmann & Selter, 2013).
Diagnose und Förderung gehören demzufolge untrennbar zusammen und sind als eine Art ständiger Kreislauf zu verstehen.
Die Deutung ist das verbindende Element zwischen Diagnose und Förderung. Aus einem Ist-Zustand (erhoben durch eine entsprechende Diagnose) ergibt sich weder automatisch der Soll-Zustand (das Förderziel) noch der Weg (die Förderung) zu diesem Soll-Zustand. Beides kann erst auf der Grundlage einer Interpretation (Deutung) der erhobenen Daten durch die Lehrkraft entwickelt werden (vgl. Wember 1998). Konkret bedeutet dies, dass z.B. eine gut durchgeführte Standortbestimmung zum Thema Multiplikation die aktuellen Fähigkeiten eines Kindes abbilden kann. Das Wissen um die erreichte Punktzahl oder die gemachten Fehler sagt jedoch noch nichts darüber aus, welches die nächste zu erreichende Stufe ist oder wie die Lehrkraft mit dem Kind weiterarbeiten sollte, damit diese Stufe erreicht werden kann. Für diese Weiterarbeit müssen die Ergebnisse der Standortbestimmung erst entsprechend gedeutet werden. Die Grundlage für möglichst adäquate diagnostische Deutungen im Gemeinsamen Lernen bilden dabei fachdidaktisches Wissen, d.h. Wissen über die fachlichen Inhalte und deren Vermittlung, sowie (sonder-) pädagogisches Wissen, d.h. Wissen über diagnostische Methoden und (sonder-) pädagogische Fördermöglichkeiten (vgl. Pott 2019).
Eine nachhaltige diagnosegeleitete Förderung lässt sich nur dann erzielen, wenn sie in der Unterrichtspraxis in ständiger Wechselwirkung auftritt. Ausgangspunkt einer gezielteren Diagnose sind oft die im alltäglichen Unterricht gemachten Beobachtungen, wie sie unter „Diagnosemomente und Fördermomente“ beschrieben werden.
Darauf aufbauend wird der diagnostische Blick der Lehrkraft gezielter und mit dem Einsatz von Diagnosegesprächen und -aufgaben können erste Aussagen über einzelne Lernstände untermauert werden. Diese münden stets in einem Angebot von fördernden Anregungen und Aufgaben, wie sie in den entsprechenden Teilmodulen vorgestellt werden. Entsprechend des Kreislaufs von Diagnose und Förderung liefert auch der Einsatz von fördernden Angeboten wiederum diagnostische Informationen, weshalb Diagnose und Förderung in den Teilmodulen jeweils zusammen betrachtet werden.
Als Unterstützung zur Durchführung von Diagnose und Förderung im Unterrichtsalltag soll das Modul „Diagnosegeleitet fördern“ eine Orientierung in den unterschiedlichen Themen und Handlungsfeldern dieses vielseitigen Gebietes geben.
Welche genau dazu zählen und wie fördernde Tätigkeiten auf eine fundierte Diagnose aufbauen können, um individuelles Lernen zu optimieren (vgl. Ingenkamp & Lissmann, 2005), soll auf dieser Seite gezeigt werden. Hinzuzufügen ist, dass viele dieser Bereiche in der Unterrichtspraxis oftmals in Verbindung auftreten. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden sie nachfolgend aber getrennt voneinander beschrieben:
Im Gegensatz zu vielen geplanten Tätigkeiten sind Lehrkräfte im Unterricht durchgehend diagnostisch und fördernd tätig. Insbesondere während selbstständiger Arbeitsphasen der Lernenden ergibt sich kontinuierlich die Möglichkeit, im Unterrichtsalltag einzelne Kinder gezielt in den Blick zu nehmen, Beobachtungen zum Lernprozess zu machen und spontan fördernde Anregungen zu geben. Welches Handwerkszeug dem Unterrichtenden hilft, das Potential dieser alltäglichen Momente für Diagnose und Förderung auszuschöpfen, wird hier dargelegt.
Ein wesentlicher Bereich diagnostischer und fördernder Tätigkeiten besteht im Vorbereiten, Führen und Reflektieren von Diagnose- und Fördergesprächen. In Abgrenzung zu Diagnose- und Fördermomenten geht es hierbei um von der Lehrkraft geplante Gespräche, welche eine gezieltere Diagnose zulassen. Diese werden mit einer Haltung durchgeführt, welche sich an die Umsetzung eines klinischen Interviews anlehnt und sich durch ein höheres Maß an Zurückhaltung auszeichnet. Diese Gespräche können umfassendere Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden liefern, auf dessen Grundlage Fördermaßnahmen in Form von Fördergesprächen entwickelt werden können.
Nach erfolgter fachlicher Diagnose steht die Lehrkraft vor der Aufgabe, festzulegen, in welchen fachbezogenen Bereichen Förderung für einzelne Lernende stattfinden soll und welche individuellen Kompetenzerwartungen relevant sind. Fördernde Maßnahmen und deren Umsetzung sowie der Prozess der regelmäßigen Evaluation und Anpassung an die Lernfortschritte müssen geplant werden. Für eine solche Planung von individueller Förderung werden mögliche Vorgehensschritte skizziert. Die Anforderungen des Lehrplans und der Klassenunterricht sind dabei im Blick, jedoch rückt das einzelne Kind mit seinen individuellen Lernvoraussetzungen in den Fokus der Überlegungen.
Als Grundlage diagnostischer und fördernder Tätigkeiten ist die Auswahl geeigneter Aufgaben ein wesentliches Element, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und die Entwicklung dieser mit Unterstützung geeigneter Aufgaben zu fördern. Diagnose- und Förderaufgaben können einzeln eingesetzt, aber auch in Form einer schriftlichen Standortbestimmung oder eines individuellen Arbeitsplans, beispielsweise zu einem Rahmenthema, zusammengestellt werden.
Nicht selten ergibt sich die Notwendigkeit für die Lehrkraft, diverse Tests einzusetzen. Diese dienen insbesondere der Feststellung eines punktuellen Lernstands. Im Normalfall wird hiermit vor allem eine vergleichende Einstufung des Kindes vorgenommen, was beispielsweise bei der Notengebung Berücksichtigung finden kann. Maßnahmen zur Förderung sind nicht direkt ableitbar. Ein normorientierter Vergleich ist in manchen Situationen, wie bei der Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs, im Einzelfall zwar nicht unumgänglich, jedoch können Erkenntnisse aus solchen Tests auch als Ausgangspunkt für die weitere Lernentwicklung genutzt werden.
Unterrichtsintergierte Diagnose und Förderung setzt organisatorische Überlegungen voraus, die die Anzahl der Freiräume einer Lehrkraft für die Nutzung von Diagnose- und Fördermomenten maßgeblich bedingen. Anhand des Beispiels der Anregung des selbstorganisierten Lernens von Schülerinnen und Schülern wird eine Möglichkeit der diagnose- und fördergünstigen Unterrichtsorganisation dargestellt, auf dessen Grundlage eine Vielzahl an Diagnose- und Fördermomenten im Klassenverband ermöglicht werden können.
Auf den folgenden sechs Unterseiten wird der Zusammenhang von Diagnose und Förderung unter verschiedenen Gesichtspunkten und an unterschiedlichen Inhalten aus der Unterrichtspraxis erläutert. Die gezeigten Unterrichtsbeispiele wurden in inklusiven Klassen erprobt und erläutern anhand ausgewählter Kinderdokumente die weitreichenden Möglichkeiten von Diagnose und Förderung.