Der Begriff der Kompetenz hat zwei Bedeutungen, er kann im Sinne von Zuständigkeit und im Sinne von Fähigkeit gebraucht werden (Heimlich, 2014).

Wenn im Zusammenhang mit schulischem Lernen von Kompetenz gesprochen wird, ist in aller Regel der Fähigkeitsbegriff gemeint. Einer vielzitierten Definition von Weinert (2001, 27f.) gemäß ist eine Kompetenz die motivational gestützte Fähigkeit, bestimmte Problemlöseaufgaben lösen zu können und lösen zu wollen. Ein so definierter Kompetenzbegriff lässt sich gut auf das Erlernen von mathematischen Begriffen und Verfahren anwenden, aber es fragt sich aus pädagogischer Sicht, ob man eher nach allgemeinen Fähigkeiten suchen sollte, die sich auf viele Lernbereiche generalisieren lassen, oder nach spezifischen Fähigkeiten, die nur für bestimmte Lernbereiche relevant sind.

Historisch betrachtet stand die Suche nach allgemeinen Fähigkeiten am Anfang der pädagogischen Diagnostik. Der französische Psychologe Alfred Binet wurde 1899 beauftragt, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem sich frühzeitig „geistig retardierte“ Kinder identifizieren lassen, die aller Voraussicht nach schulische Lernschwierigkeiten entwickeln würden. Er befragt Lehrerinnen und Lehrer aus verschiedenen Schulen und Schulklassen nach altersangemessenen Aufgaben, stellte diese Aufgaben zusammen und erprobte sie an zahlreichen Schülerinnen und Schülern, um besonders geeignete Aufgaben zu identifizieren. Seine Versuche endeten in einer vielfältigen Sammlung von unterschiedlichen Aufgaben, die von Kindern verschiedenen Alters verlangten Sätze zu bilden, Rätsel zu lösen, zu zählen und zu rechnen und zu zeichnen. Binet bezeichnete seine Aufgabensammlung als „Intelligenztest“ und er konnte zeigen, dass die Aufgaben geeignet waren, Entwicklungsrückstände zu erkennen (Binet & Simon, 1904).

Heute gibt es einige mit großer Sorgfalt entwickelte und mit erheblichem Aufwand standardisierte Intelligenztests, die hoch mit schulischen Leistungen korrelieren (.70-.80) und die sich gut zur Diagnose von allgemeinen intellektuellen Entwicklungsrückständen eignen. Vorhersagen im Einzelfall sind jedoch sehr unsicher, besonders bei jüngeren Kindern, bei schwachen Lernern und bei Kindern mit Migrationshintergrund, und Intelligenz entwickelt sich nicht unabhängig von den Schulleistungen, sie wird durch Beschulung stark beeinflusst.

Aus pädagogischer Sicht ist zu beachten, dass keine Schlüsse auf geeignete pädagogische Fördermaßnahmen zulassen. Folglich hat man versucht, Aufgaben zu finden, die sich für Förderentscheidungen besser eignen. Zwei Ansätze haben viel Aufmerksamkeit gefunden:
  • Ein Ansatz bestand darin, Marianne Frostigs Theorie der visuellen Wahrnehmungsentwicklung und die auf dieser Theorie basierenden Testverfahren und Förderprogramme zu nutzen. Es zeigte sich, dass systematische Wahrnehmungsförderung nur bei jüngeren Kindern und nur bei solchen Kindern angezeigt war, die nachweislich Probleme bei der visuellen Wahrnehmung hatten, und dass die Fördereffekte relativ gering waren und nicht auf die schulischen Leistungen transferierten (Greisbach, 2010).
  • Ein zweiter Ansatz versuchte, bei Kindern mit Lernschwierigkeiten eine ausgleichende Förderung durch eine systematische Erziehung durch und zu Bewegung zu erzielen, entweder durch psychomotorische Übungen oder durch Übungen zur sog. sensorischen Integration (Ayers, 1984). Auch diese Ansätze zeigten zwar positive Effekte im Hinblick auf die motorische Entwicklung von Kindern mit nachgewiesenen motorischen Schwierigkeiten, aber sie waren auf jüngere Kinder beschränkt und sie generalisierten nicht auf die schulische Leistungsentwicklung (Breitenbach, 2014; Hölter, 2014).
Die Suche nach allgemeinen Kompetenzen war motiviert von der Vorstellung, es könne gelingen, grundlegende Fähigkeiten zuverlässig zu diagnostizieren und wirksam zu fördern, die auf viele schulische Leistungen generalisieren würden. Heute sucht man eher nach spezifischen Fähigkeiten, die zwar nur für bestimmte Lernbereiche relevant sind, aber in diesen Lernbereichen spezifische Leistungen wirksam erklären können.

Für die Planung individuell passender Lernangebote im inklusiven Mathematikunterricht kommt es darauf an, im Sinne einer Entwicklungsorientierten Diagnostik festzustellen, welche Kompetenzen ein Kind zur Bearbeitung einer bestimmten Aufgabe bereits erfolgreich erwerben konnte, welche Kompetenzen noch nicht oder nur unzureichend beherrscht werden und was sinnvolle nächste Schritte der gezielten Förderung sein könnten. Im Rahmen der Leitidee Diagnosegeleitet fördern wird dargestellt, dass Diagnose und Förderung auf das Engste miteinander verknüpft sind und wie sich diagnostisch wertvolle Informationen im Unterrichtsalltag gewinnen lassen.
 
 
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