Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung
Die „Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung“ für Nordrhein-Westfalen definiert in § 4 (1) allgemein (AO-SF, 2020):
Lern- und Entwicklungsstörungen sind erhebliche Beeinträchtigungen im Lernen, in der Sprache sowie in der emotionalen und sozialen Entwicklung, die sich häufig gegenseitig bedingen oder wechselseitig verstärken. Sie können zu einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in mehr als einem dieser Förderschwerpunkte führen.
Bezugnehmend auf den Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung wird in § 4 (4) präzisiert (AO-SF, 2020):
Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (Erziehungsschwierigkeit) besteht, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist.
Zu beachten ist, dass diese Definitionen aus einem nur für Nordrhein-Westfalen rechtsverbindlich gültigen Dokument stammen. In anderen Bundesländern gelten andere Regelungen und die vergleichbaren Definitionen können mehr oder weniger von den hier zitierten Definitionen und voneinander abweichen.
Die Kulturministerkonferenz der Länder (ein Organ, das u. a. das Ziel verfolgt, die gemeinsamen Interessen der 16 Bundesländer zu formulieren und zur Vergleichbarkeit im Bildungswesen beizutragen), beschreibt in ihren „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“, dass die „Beeinträchtigungen im emotionalen Erleben und sozialen Handeln“ der Kinder und Jugendlichen mit diesem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt als „Ausdruck einer unbewältigten inneren Problematik und als Folge einer gestörten Person-Umwelt-Beziehung“ gesehen werden (KMK, 2000, S. 10).
Dies zeigt sich auch im sozialen Miteinander in Schule und Unterricht. Hier kommt erschwerend hinzu, dass viele Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung nicht nur soziale Situationen im Allgemeinen als belastend erleben, sondern darüber hinaus Leistungsanforderungen häufig als Überforderung empfinden. Im schulischen Kontext fallen die betroffenen Schülerinnen und Schüler häufig dadurch auf, dass sie Verhaltensweisen zeigen, die das soziale Miteinander und den schulischen Lernerfolg beeinträchtigen und wenig förderlich für die eigene Entwicklung sind. Diese variieren individuell und abhängig von der jeweiligen Situation hinsichtlich Häufigkeit und Intensität. Sie können von sozial unreifem Verhalten bis zu Formen sozialisiert delinquenten Verhaltens reichen, wie im Teilmodul Hintergrund erläutert (Myschker & Stein, 2014, S. 58):
-
Manche Kinder und Jugendliche zeigen sozial unreifes Verhalten, also Verhaltensweisen, die ihrem eigentlichen Alter nicht entsprechen. Hierunter fallen vor allem impulsives und wenig kontrolliertes, häufig leicht ermüdbares, unaufmerksames und unkonzentriertes Verhalten, das nicht selten gemeinsam mit schwachen Schulleistungen oder Sprachentwicklungsstörungen auftritt.
-
Manche Kinder und Jugendliche zeigen internalisierendes (also nach innen gekehrtes), ängstlich gehemmtes Verhalten. Bei aufmerksamer Betrachtung fallen sie durch ihre Tendenz zur Zurückgezogenheit und ihr eher freud- und interesseloses Verhalten auf, das oft mit Desinteresse an Herausforderungen und mit Minderwertigkeitsgefühlen einhergeht und manchmal bis zu somatischen Störungen (wie z. B. Kopf- oder Bauchweh) reichen kann.
-
Manche Kinder und Jugendliche zeigen externalisierendes, aggressiv-ausagierendes Verhalten, das vor allem durch impulsives und überaktives, regelverletzendes und streitbereites Verhalten auffällt und häufig gemeinsam mit aversiven Emotionen und einer geringen Fähigkeit zur Selbststeuerung auftritt.
-
Manche Kinder und Jugendliche zeigen sozialisiert delinquentes Verhalten, durch das sie planvoll und kontrolliert Regeln überschreiten und die allgemein gesellschaftlich akzeptierten Normen und Werten verletzen. Dies steht oft häufig in Verbindung mit leichter Erregbarkeit und hoher Gewaltbereitschaft gegen Personen und Sachen.
Diese vier Gruppen und die Charakteristika des Erlebens und Verhaltens haben hohe Alltagsplausibilität und finden sich seit mehreren Jahrzehnten weltweit in der Forschung zu Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter wieder.
Im Schulalltag kann es schnell passieren, dass Schülerinnen und Schüler durch externalisierendes Verhalten eher auffallen und von den sie umgebenden Personen mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen als solche, die problematische internalisierende Probleme haben. Dies sollte Lehrkräften bewusst sein, damit sie sich in ihrer Wahrnehmung und ihrem professionellen Verhalten reflektieren und ihre Aufmerksamkeit gezielt auch auf die stilleren Kinder und Jugendlichen legen. Myschker und Stein (2014) betonen diesbezüglich, dass internalisierende Probleme sich zwar häufiger spontan bessern und damit eine bessere Prognose haben als externalisierende Verhaltensprobleme, sie aber für die persönliche Entwicklung der Betroffenen nicht weniger belastend seien.
Vorübergehende Probleme im Erleben und Verhalten
Insbesondere die Definition der AO-SF (siehe oben) verdeutlicht, dass nicht bei allen Schülerinnen und Schülern, die gelegentlich herausfordernde oder zurückgezogene Verhaltensweisen zeigen, ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung vorliegt. Viele Kinder und Jugendliche haben im Verlauf ihrer Entwicklung zumindest zeitweise Probleme im Erleben und Verhalten und benötigen in dieser Zeit intensivere Unterstützung. Auch wenn in solchen Fällen kein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung vorliegt, können auch diese Kinder und Jugendlichen von einem Schulalltag bzw. Unterricht profitieren, in dem ihre Bedürfnisse nach Struktur, Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Wertschätzung und Erfolg erfüllt werden.
Im Modul Unterricht befinden sich hilfreiche Hinweise darauf, wie eine Lehrkraft durch gelingendes Classroom Management, Feedback und andere pädagogische Maßnahmen dazu beitragen kann, dass sowohl Schülerinnen und Schüler mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung am Schul- und Unterrichtsalltag partizipieren, erfolgreich lernen und sich möglichst gut entwickeln können.
Aktuelle Daten
Dieser Abschnitt informiert über ausgesuchte Daten zum Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung und führt einige Vergleichsdaten zu Inklusion und Exklusion, verschiedenen Schulformen und zeitlichen Entwicklungen an. Wenn Sie sich darüber hinaus eingehender über die Datenlage in Bezug auf Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemein informieren möchten, können Sie in den Ausführungen zum Schwerpunkt Lernen im Abschnitt Definitionen und Daten vergleichbare Befunde studieren.
Mit dem 16. Schulrechtsänderungsgesetz (geltend seit März 2022) wird in Nordrhein-Westfalen die "Schule für Kranke" in „Klinikschule" umbenannt. Da die im Folgenden genutzten Daten mit der alten Begrifflichkeit arbeiten, wird diese im Text beibehalten.
Sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung in Deutschland
Wie viele Kinder und Jugendliche werden bundesweit im Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung gefördert?
Im Schuljahr 2020/2021 lag nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK, 2022) bei gut 571.000 Schülerinnen und Schülern (ohne „Schule für Kranke“) ein diagnostizierter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf vor. Das entspricht einer Förderrelation von 7,7 % und einem Anteil von etwa 18 % an allen Lernenden mit sonderpädagogischer Förderung. Der Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung stellt mit nahezu 104.000 Schülerinnen und Schülern nach dem Förderschwerpunkt Lernen (N = 228.121) den am zweithäufigsten diagnostizierten sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in Deutschland dar, wie das folgende Kreisdiagramm zeigt.
Sonderpädagogisch geförderte Schüler*innen an allgemeinen Schulen und an Förderschulen in der Bundesrepublik Deutschland – Anzahlen, Förderrelationen und Verteilung nach Förderschwerpunkten im Schuljahr 2020/2021 (KMK, 2022, S. XVII; ohne Schulen für Kranke, eigene Darstellung)
Wie hoch ist der Anteil der Schüler*innen mit Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung an allgemeinen bzw. an Förderschulen?
Das folgende Kreisdiagramm zeigt die Anzahlen und relativen Anteile der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich der Emotionalen und sozialen Entwicklung in Förderschulen bzw. allgemeinen Schulen in Deutschland im Schuljahr 2020/2021. Von den knapp 104.000 Schülerinnen und Schülern im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung wurden knapp 43 % an Förderschulen und gut 57 % an allgemeinen Schulen (vorrangig an Grundschulen, integrierten Gesamtschulen und Schularten mit mehreren Bildungsgängen) unterrichtet.
Anzahlen und relative Anteile der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf Emotionale und soziale Entwicklung in Förderschulen und allgemeinen Schulen in Deutschland im Schuljahr 2020/21 (KMK, 2022, S. 6, 11-19; eigene Darstellung)
Sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung in Nordrhein-Westfalen
Je nach Bundesland unterscheiden sich die Schülerzahlen und Inklusionsquoten. In Nordrhein-Westfalen waren beispielsweise im Schuljahr 2020/2021 von insgesamt 1.919.596 Schüler*innen etwas mehr als 143.000 Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf diagnostiziert. Dies entsprach einer Förderrelation von 7,46 % und bewegte sich damit nahe am bundesweiten Durchschnitt von 7,7 %. Der Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung hat mit gut 33.000 Schüler*innen einen Anteil von 23,25% der Lernenden mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in diesem Bundesland und ist somit, wie auch bundesweit, nach dem Bereich Lernen der zweithäufigste Förderschwerpunkt. Dies zeigt sich auch in der folgenden Abbildung:
Sonderpädagogisch geförderte Schüler*innen an Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen – Verteilung nach Förderschwerpunkten im Schuljahr 2020/2021 (KMK, 2022, S. 25, 53; eigene Darstellung ohne Schule für Kranke und ohne übergreifende Förderschwerpunkte)
Wie hoch ist der Anteil der Schüler*innen an allgemeinen bzw. an Förderschulen in NRW?
Die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 und die Umsetzung der Intention von Artikel 24 in den Schulgesetzen der Bundesländer stellen wichtige Meilenstein für die inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne diagnostizierten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung dar. Das zeigt sich u.a. daran, dass im Schuljahr 2020/2021 insgesamt 47% der Kinder mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung in inklusiven Settings an allgemeinen Schulen unterrichtet wurden, und zwar vor allem an Grundschulen (12 %) und an integrierten Gesamtschulen (17 %), wie in der folgenden Abbildung dargestellt ist.
Anzahlen und relative Anteile der Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf Emotionale und soziale Entwicklung in Förderschulen und allgemeinen Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2020/21 (KMK, 2022, S. 29, 69, 81, 87, 93, 99, 105); eigene Darstellung; zu „Vorschulen“, „freie Waldorfschulen“ und „schulartunabhängige Orientierungsstufen“ gibt es keine Angaben)
Wie stellt sich die Entwicklung der Schülerzahlen dar?
Nachdem in den vorherigen Abschnitten vor allem Momentaufnahmen des Schuljahrs 2022/2021 im Querschnitt betrachtet wurden, soll im Folgenden die Entwicklung der letzten Jahre abgebildet werden. Hierzu werden die Schülerzahlen der Jahre 2011 bis 2020 im Land Nordrhein-Westfalen im Längsschnitt betrachtet, und zwar sowohl für alle sonderpädagogisch geförderten Schülerinnen und Schüler sowie speziell im Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung und jeweils unterteilt nach allgemeinen Schulen und Förderschulen.
Entwicklung der Anzahlen der sonderpädagogisch geförderten Schüler*innen im Land Nordrhein-Westfalen (2011-2020) sowie im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung unterteilt nach allgemeinen Schulen und Förderschulen (KMK, 2022, S. 21, 29, 53, 57; eigene Darstellung)
Insgesamt ist ein vergleichsweise hoher Anstieg der sonderpädagogisch geförderten Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung von 2011 (N= 21.270 Schüler*innen) bis 2020 (N = 33.294 Schüler*innen) um gut 12.000 Schüler*innen zu beobachten, dies entspricht einem Anstieg um 57%. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, die an allgemeinen Schulen unterrichtet werden, hat sich fast verdreifacht (von 5.297 auf 15.696 Schüler*innen), während die Zahlen an den Förderschulen um nur etwa 10 % (von 15.973 auf 17.598) gestiegen sind. So wurden im Jahr 2011 etwa 25 % der Schülerinnen und Schüler im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung inklusiv beschult, während dies im Jahr 2020 bereits für 47 % zutraf.
Der gleiche Trend zeigt sich bei den Zahlen aller sonderpädagogisch geförderten Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen. Auch hier hat sich der Anteil der sonderpädagogisch geförderten Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen fast verdreifacht, allerdings ist ein Rückgang der Schülerinnen und Schülern an Förderschulen um etwa 17 % (von 97.314 auf 80.600 Schüler*innen) zu beobachten. Diese Entwicklungstrends zeichnen sich auch bundesweit ab (weitere Daten zu den verschiedenen Schwerpunkten finden Sie im Teilmodul Lernen - Definitionen und Daten.
Welche Orte sonderpädagogischer Förderung gibt es in NRW?
Orte sonderpädagogischer Förderung werden in § 20 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen definiert (BASS, 2022). Sonderpädagogische Förderung findet an allgemeinen Schulen, Förder- und Klinikschulen statt. Gemeinsames Lernen kann an jeder allgemeinen Schule umgesetzt werden, außer es fehlt an entsprechender personeller und/oder sächlicher Ausstattung. Um dennoch ein flächendeckendes inklusives Schulangebot zu gewährleisten, kann ein Schulträger in Abstimmung mit der oberen Schulaufsicht allgemeine Schulen zu Schwerpunktschulen benennen und entsprechend ausstatten. An einer Schwerpunktschule wird neben den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Emotionale und soziale Entwicklung mindestens ein weiterer Förderschwerpunkt (möglicherweise aber auch mehrere zusätzliche Förderschwerpunkte) unterrichtet. Schwerpunktschulen sollen durch ihre besondere Ausrichtung auch andere Schulen (z.B. Nachbarschulen) entsprechend unterstützen (vgl. BASS, 2022, SchulG § 20 (5) und (6)).
Die jeweils aktuellen statistischen Daten zur sonderpädagogischen Förderung in Schulen in Deutschland sind unter folgendem Link abrufbar: https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/sonderpaedagogische-foerderung-an-schulen.html
Informationen zu den Bedingungsfaktoren im Kontext von herausforderndem Verhalten bzw. eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich der Emotionalen und sozialen Entwicklung sowie zur Diagnostik, finden sich in den nächsten beiden Teilmodulen Bedingungsfaktoren und Diagnostik.
Diese Seite wurde von Dr. Michael Paal, Prof. Dr. Anna-Maria Hintz
und Petra Breuer-Küppers erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.