Im Bereich der körperlichen und motorischen Entwicklung ist der Unterstützungsbedarf sehr vielfältig und bei manchen Lernenden besonders ausgeprägt. In Schule und Unterricht entsteht häufig der Eindruck, dieser sei eine Folge der körperlichen Beeinträchtigungen einzelner Schülerinnen und Schüler. Man darf jedoch nicht übersehen: Unterstützungsbedarf entsteht aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen. Folglich stellen sich im Schwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung zwei diagnostische Fragen:
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Liegt bei einem Kind sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Sinne einer Körperbehinderung vor?
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Welche Kompetenzen kann das Kind in den Unterricht einbringen, an die schulische Lern- und Entwicklungsförderung anknüpfen kann?
In diesem Abschnitt wird zunächst im Überblick betrachtet, wie sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der körperlichen und motorischen Entwicklung diagnostiziert wird. Wir werden einige Schwierigkeiten aufzeigen, die sich bei der Anwendung von standardisierten und normorientierten Testverfahren ergeben und zu einer Benachteiligung der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen können. Weitere Informationen zum Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf können Sie in unserem Webangebot unter dem Thema AO-SF finden, u. a. Hintergrundwissen, einen Informationsfilm zum Ablauf des Verfahrens in NRW und Antworten auf einige häufig auftauchende Fragen.
Anschließend gehen wir der Frage nach den unterrichtsrelevanten Kompetenzen der Kinder und möglichen Ansätzen zur Entwicklungsförderung nach. Wir werden uns mit Möglichkeiten der unterrichtsintegrierten Beobachtung des Lernverhaltens in ausgesuchten Bereichen der sensumotorischen Entwicklung befassen, die für die Planung und Analyse von inklusivem Mathematikunterricht relevant sind und auf Handlungsoptionen verweisen, die wir an anderer Stelle im Rahmen der Leitidee Diagnosegeleitet Fördern vorgestellt haben.
Wie lässt sich sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung feststellen?
Die Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs regeln die Bundesländer in eigener Verantwortung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen und die dort erlassene Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung (AO-SF, 2022). Diese regelt verwaltungsrechtliche und organisatorische Fragen wie die Anhörung der Eltern und Erziehungsberechtigten und deren Rechte, die Zuständigkeiten und die Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer, die Qualität der zu verwendenden Testinstrumente und die zu deren Anwendung erforderlichen fachlichen Qualifikationen. In anderen Bundesländern gelten ähnliche, in Details jedoch durchaus abweichende schulrechtliche Regelungen.
Die Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen (AO-SF, 2022) verlangt, in einem geregelten gutachterlichen Verfahren zu prüfen, ob bei einem oder einer Lernenden ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung besteht, bevor besondere pädagogische Ressourcen zugewiesen werden können. Im Schwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung gilt es festzustellen, ob
„das schulische Lernen dauerhaft und umfänglich beeinträchtigt ist auf Grund erheblicher Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungssystems, Schädigungen von Gehirn, Rückenmark, Muskulatur oder Knochengerüst, Fehlfunktion von Organen oder schwerwiegenden psychischen Belastungen infolge andersartigen Aussehens“ (AO-SF, 2022, § 6).
Empirische Studien (vgl. Lelgemann & Fries, 2009; Singer, 2015; Walter-Klose, 2015) zeigen, dass die Gruppe der von motorischen Behinderungen betroffenen Kinder und Jugendlichen äußerst heterogen ist. Vielfältige Besonderheiten bei Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, in der Grob- und Feinmotorik, in der kognitiven, sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklung können isoliert oder kombiniert vorkommen und sie können von wenig auffälligem Verhalten bis hin zu erheblichen Funktionseinschränkungen reichen, die im Einzelfall das schulische Lernen zu einer großen Herausforderung werden lassen (Bergeest & Boenisch, 2019, S. 99-210; Lelgemann, 2010, S. 48-51; Leyendecker, 2005, S. 84-123).
In den allermeisten Fällen sind körperliche und motorische Beeinträchtigungen eines Kindes bereits bei Schuleintritt bekannt und dokumentiert, so dass vorliegende Befunde und Beurteilungen im gutachterlichen Verfahren genutzt werden können. Es kann aber durchaus vorkommen, dass Beeinträchtigungen erst in der Schule erkannt werden und pädagogisch zu begutachten sind.
In einem gutachterlichen Verfahren, welches in Nordrhein-Westfalen nur von fachlich qualifizierten und eigens legitimierten Personen durchgeführt werden darf, ist auf individueller Basis zu klären, ob bei einem Kind mit Beeinträchtigungen Maßnahmen der sonderpädagogischen Unterstützung notwendig sind und welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Zur Beantwortung dieser Fragen sind vorliegende Informationen zu nutzen und weitere vielfältige Informationen einzuholen:
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Zur familiären Situation des Kindes kann man das Kind, seine Eltern und eventuell bisherigen Betreuungspersonen befragen.
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Die emotionale und soziale Entwicklung eines Kindes sollte man in Gesprächen mit dem Kind und mit signifikanten Bezugspersonen erkunden und mit eigenen Beobachtungen abgleichen.
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Zur sozialen Integration eines Kindes in und außerhalb der Schule spricht man ebenfalls mit dem Kind, mit anderen Kindern aus der Klasse und mit den Eltern sowie den Lehrkräften und etwaigen Betreuungspersonen.
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Zur perzeptiven, sprachlichen und kognitiven Entwicklung eines Kindes mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen können oft Erfahrungsberichte, manchmal auch Daten aus dem Kindergarten oder der Kindertagesstätte und aus Einrichtungen der Frühförderung genutzt werden, ebenso Berichte und Befunde zur schulischen Leistungsentwicklung.
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Zu den körperlichen Schädigungen und motorischen Beeinträchtigungen eines Kindes liegen in aller Regel ärztliche Befunde vor, bei unzureichender Datenlage wird über das Gesundheitsamt ein schulärztliches Gutachten eingeholt.
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Zur Schulbiografie und zur aktuellen schulischen Situation eines Kindes können verfügbare Dokumente genutzt und Lehrkräfte befragt werden, Beobachtungen im Unterricht und bei Pausenaktivitäten durchgeführt und eigene Schulleistungsmessungen erhoben werden.
Bei der Entscheidungsfindung sollte sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf „nicht allein aus defizitären Eigenschaften eines Kindes, losgelöst von seinem gesamten Lernumfeld, bestimmt“ (Leyendecker, 2005, S. 149) werden, sondern aus einer sorgfältigen Analyse der kognitiven, sprachlichen, emotionalen und motorischen Kompetenzen des Kindes und seiner familiären und sozialen Lage in Relation zu den schulischen Anforderungen und den schulisch verfügbaren Ressourcen. Die diagnostisch Tätigen müssen abwägen und die vielfältigen Informationen bewerten. Sie sollten versuchen, die Wertenscheidungen, die es zu treffen gilt, offen zu legen und mit dem Kind, seinen Eltern und seinen Lehrkräften zu besprechen. Dies gilt besonders dann, wenn zusätzlich zum Unterstützungsbedarf Körperliche und motorische Entwicklung Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens oder der Geistigen Entwicklung festgestellt wird, weil dies zur Beschulung in einem zieldifferenten Bildungsgang mit reduzierten Anforderungen führt.
Bei der Vielfalt von vorliegenden diagnostischen Beurteilungen und Stellungnahmen besteht ein zentrales Problem darin, dass deren Güte häufig nur schwer zu beurteilen ist. Sie können zwar hilfreich sein, aber sie werden oft ohne Angabe der Datengrundlage abgegeben und sie bestehen nicht selten aus wertenden Äußerungen einzelner Personen auf der Basis von mehr oder minder reflektierten Alltagserfahrungen. Durch Erhebung aktueller Daten durch eigene Beobachtungen und Befragungen können diese ergänzt und geprüft werden. Werden die Beobachtungen und Befragungen frei durchgeführt, können sie zwar individuell an das Kind und seine Situation angepasst werden, aber bei einem solchen Vorgehen bedroht subjektive Beliebigkeit die Gültigkeit der Daten. Einen Mittelweg zwischen Validität durch individuell angepasste und Invalidität durch subjektiv beliebige Beobachtungen und Befragungen stellen strukturierende Beobachtungsbögen und Checklisten, Leitfäden und Fragebögen dar.
Inwiefern sind Instrumente zur Strukturierung von Befragungen und Beobachtungen hilfreich?
Ein Beispiel für einen Interviewleitfaden zur einheitlichen Strukturierung von Anamneseerhebungen ist der Diagnostische Elternfragebogen von Dehmelt, Kuhn und Zinn (1993). Er stammt der aus dem Bereich der Erziehungs- und Schulberatung bzw. der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wurde bereits 1974 eingeführt und findet aktuell in 3. veränderter Auflage Anwendung. Er erleichtert die systematische Befragung von Eltern durch pädagogisch oder psychologisch qualifizierte Fachleute, indem er Fragen vorgibt und die frei zu formulierende Protokollierung der Antworten an geeigneten Stellen durch Textvorgaben erleichtert. Erfasst werden einige demografische Daten zum Kind und zu den Eltern, bevor Angaben zu sieben Bereichen erfragt werden:
Familienverhältnisse: Alter und Berufstätigkeit der Eltern, Geschwister, Wohnverhältnisse, besondere familiäre Gegebenheiten wie Scheidung, Adoption, Beeinträchtigungen und Behinderungen von Familienmitgliedern
Körperliche und geistige Entwicklung: Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, frühkindliche Entwicklung; Krankheiten, Unfälle und Krankenhausaufenthalte; geistige und körperliche Schwächen des Kindes, Verhalten im Kindergarten, Beginn der Pubertät.
Erziehung: Betreuung und Erziehung des Kindes durch welche Familienmitglieder, Arten der Belohnung und Bestrafung des Kindes, Pflichten des Kindes, Medienkonsum und Taschengeld.
Interessen und Fähigkeiten: Besondere Interessen, Neigungen und Fähigkeiten bzw. Abneigungen des Kindes, Integration in Jugendgruppen und Vereinen, Einschätzung der kognitiven Entwicklung durch die Eltern.
Beziehungen zu anderen Personen: Verhältnis zwischen dem Kind und der Mutter, dem Vater, den Geschwistern; gute Freundinnen und Freunde, Freundschaften und Feindschaften außerhalb der Familie.
Schule: Schullaufbahn und Schulbesuch, Schulleistungen und schulische Interessen bzw. Abneigungen, Umgang mit schlechten Noten, Verhalten gegenüber anderen Lernenden und den Lehrpersonen, Hausaufgaben.
Entwicklung des Problemverhaltens: Erstes Auftreten des Problemverhaltens, Entwicklung von Häufigkeit und Intensität des Problemverhaltens, besondere Orte, Situationen oder Personen, die mit dem Problemverhalten verknüpft sind.
Der letzte Bereich des Elternfragebogens passt nicht unbedingt zur Feststellung von pädagogischem Unterstützungsbedarf bei körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen und wird nur dann zu berücksichtigen sein, wenn bei einem Kind problematische Verhaltensweisen vorliegen. Ein Leitfaden wie dieser kann folglich die Befragung von Eltern sinnvoll vorbereiten und dazu beitragen, dass bestimmte Problembereiche nicht übersehen und relativ einheitlich erfragt werden, aber er muss nicht selten aus der individuellen Situation heraus variiert und durch differenziertere Fragen ergänzt werden, wie das folgende Beispiel zeigt, das fast alle Fragen zum Bereich Körperliche und geistige Entwicklung wiedergibt.
8. Wie verlief die Schwangerschaft?
⃝ normal
⃝ Komplikationen bzw. Auffälligkeiten: ______________________________________
9. Wie verlief die Geburt?
⃝ normal
⃝ Frühgeburt
⃝ Spätgeburt (übertragen)
⃝ Komplikationen bzw. Auffälligkeiten (z. B. Zangengeburt, Kaiserschnitt, Nabelschnur um den Hals, blau im Gesicht usw.): _________________________________________
10. In welchem Alter lernte das Kind laufen?
mit _______ Monaten
11. Wann wurde es sauber?
mit _______ Monaten
12. Wann lernte es sprechen?
Die ersten einzelnen Wörter mit _________ Monaten
Die ersten kleinen Sätze mit ________ Monaten
13. Welche besonderen Krankheiten hat das Kind durchgemacht. Und wann?
14. War es schon einmal im Krankenhaus?
⃝ nein
⃝ ja, Art des Unfalls: ___________________________________________________
16. Hat das Kind körperliche oder geistige Schwächen? (Bitte angeben seit wann)
⃝ nein
⃝ Sehschwächen (Brille: Ja/Nein?), seit __________________________________
⃝ Hörschäden, seit __________________________________________________
⃝ Sprachstörungen, seit ______________________________________________
⃝ Schäden an Körper und Gliedmaßen, seit ______________________________
⃝ Bewegungsstörungen, seit __________________________________________
⃝ Allergien, seit ____________________________________________________
⃝ geistige Schäden, seit ______________________________________________
⃝ andere Schwächen: _______________________________________________
Diagnostischer Elternfragebogen, Körperliche und geistige Entwicklung, Fragen 8 bis 18 (Dehmelt, Kühnert & Zinn, 1993)
Nicht nur Befragungen, auch Beobachtungen lassen sich planen und vorstrukturieren. Bei einer freien Beobachtung und Beurteilung des motorischen Verhaltens eines Kindes werden unterschiedliche Beobachtende unterschiedliche Bewegungsaufgaben formulieren und in ihren Verhaltensanalysen unterschiedliche, nicht explizierte Kriterien anlegen. Das Diagnostische Inventar motorischer Basiskompetenzen von Eggert und Ratschinski (1993) möchte subjektiv geprägte, nicht vergleichbare Beobachtungen vermeiden, indem es in 24 so genannten Übungen ausgesuchte Bewegungsaufgaben vorschlägt, die zwar einheitlich gestaltet, aber von den Untersuchenden individuell variiert werden können. Es handelt sich um Aktivitäten, die sich in der motorischen Früherziehung bewährt haben und in denen Gelenkigkeit, Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Gleichgewichtserhaltung herausgefordert werden: Körperspannung aufbauen, Schlusssprung und Springen im Wechsel oder mit Drehung, Balancieren und Stehen auf Zehenspitzen und auf einem Bein, Bohnensäckchen werfen oder mit dem Fuß kicken, einen Ball mit dem Fuß führen, einen vorgegeben Weg grobmotorisch an einer Tafel und feinmotorisch auf Papier nachzeichnen, Richtungshören, geometrische Formen auf einer zeichnerischen Vorlage erkennen und ankreuzen bzw. nachzeichnen, aus Papier ausschneiden oder blind ertasten, Kugeln auf einem Steckbrett umstecken etc.
Das Diagnostische Inventar (Eggert & Ratschinski, 1993) beschreibt die nötigen Materialien, die Gestaltung der Beobachtungssituationen und die verbalen Instruktionen, liefert für einige Aufgaben Vorlagen zur Reproduktion und für alle Aufgaben Protokollbögen und Auswertungshinweise, im Folgenden exemplarisch verdeutlicht an Bewegungsaufgabe 6.
Übung 6: Auf Zehenspitzen stehen
Basiskompetenz: Gleichgewicht
Geräte: Stoppuhr
Ort: Halle
Beschreibung:
Das Kind stellt sich beidbeinig auf seine Zehenspitzen. Nach etwa fünf Sekunden schließt es auf ein Zeichen des Übungsleiters hin die Augen und bleibt noch genau drei Sekunden deutlich auf Zehenspitzen stehen, ohne die Füße zu versetzen oder mit den Fersen den Boden zu berühren.
Anweisung:
„Stelle dich bitte auf Deine Zehenspitzen und bleibe so stehen, bis ich HALT sage.“ „Jetzt schließe bitte Deine Augen.“ Nach drei Sekunden: „HALT.“
Auswertungsmodus: geschafft / nicht geschafft (1/0)
1 P: Zehenspitzenstand drei Sekunden mit geschlossenen Augen durchgehalten.
0 P: Trotz Wiederholung die drei Sekunden nicht durchgehalten, die Füße versetzt, die Fersen auf den Boden gebracht oder den fünfsekündigen Zehenspitzenstand mit offenen Augen nicht durchgestanden.
Diagnostisches Inventar motorischer Basiskompetenzen, Übung 6 (Eggert, 1993, S. 128)
Die 24 Bewegungsaufgaben stellen einen Itempool dar, aus dem die diagnostizierenden Personen auswählen sollten. Die Testautoren schlagen zur Eingangsdiagnostik eine Kurzform vor, die aus acht Aufgaben besteht, sowie eine Kurzfassung für geistig behinderte Kinder, die 14 ausgesuchte Aufgaben und eigens angepasste Instruktionen umfasst. Darüber hinaus kann eine Fachkraft je nach Kind und diagnostischer Fragestellung eigene, individuell angepasste Kurzformen zusammenstellen und die Aufgaben in kleine Geschichten einkleiden oder in spielerischer Form darbieten (Eggert & Ratschinski, 1993, S. 104-107).
Zu allen 24 Aktivitäten werden statistische Vergleichsdaten angeboten, aber Eggert und Ratschinski (1993, S. 110) betonen, diese seien nur mit Vorsicht zu benutzen, denn sie führten schnell zu quasi normativen Vergleichen und negativen Etikettierungen von Kindern mit auffälligem Bewegungsverhalten. Solche Urteile seien im Fall des Diagnostischen Inventars mangels Standardisierung nicht gerechtfertigt. Ziel des Verfahrens sei vielmehr, das motorische Verhalten eines Kindes vielfältig zu erfassen und qualitativ zu beschreiben, aber nicht es zu messen und zu testen. In einer überarbeiteten Fassung von Eggert und Reichenbach (2021) finden sich dieser Zielsetzung entsprechend zahlreiche Vorschläge zur Variation und Individualisierung von Aktivitäten und differenzierte Hinweise zur Analyse des gezeigten Bewegungsverhaltens.
Welche Probleme ergeben sich bei der Anwendung von standardisierten Testverfahren?
In vielen Fällen ist man auf Berichte und Stellungnahmen aus anderen Institutionen angewiesen, die man mit objektiven, reliablen und validen Daten abgleichen möchte, um sich ein eigenes Bild von den Kompetenzen eines Kindes zu machen. Wenn man diagnostische Entscheidungen datenbasiert treffen möchte, werden häufig Testverfahren eingesetzt, in denen Leistungen unter standardisierten Bedingungen beobachtet und nach normierten Kriterien beurteilt werden. Im Schwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung können Intelligenz- und Entwicklungstests, Schulleistungstests und Motoriktests zum Einsatz kommen. Zwei typische Motoriktests wollen wir im Folgenden betrachten.
Die Möglichkeiten und Grenzen von Intelligenz- und Schulleistungstests werden auf unserer Webseite in den Ausführungen zum AO-SF dargestellt und sollen hier nicht wiederholt werden. Im Rahmen der Diagnostik im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung haben wir erörtert, welche gravierenden Probleme sich bei der pädagogisch orientierten Durchführung und Interpretation von Tests bei Kindern mit komplexen geistigen Beeinträchtigungen ergeben. Nach Haupt (2003, S. 37-45) stellt sich im Schwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung ebenso die Frage, ob standardisierte Tests bei schweren und komplexen Bewegungsbeeinträchtigungen überhaupt pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden können.
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Objektivität in der Testdurchführung und -auswertung verlangt, dass alle Kinder die gleichen Aufgaben unter gleichen Bedingungen lösen müssen und dass ihre Lösungen nach einheitlichen Kriterien bewertet und mit verbindlichen Normen verglichen werden. Nach Haupt (2003, S. 39) stellt eine solche Standardisierung nur scheinbar gleiche Bedingungen für alle her. In Wirklichkeit benachteiligt sie motorisch beeinträchtigte Kinder, da die Testanforderungen an den Handlungsmöglichkeiten der Kinder oft völlig vorbeigehen und da die Testnormen weit über ihren Leistungsmöglichkeiten liegen.
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Kinder mit Bewegungsbehinderungen können Aufgaben, die aktive motorische Bewegungen erfordern, überhaupt nicht oder nur mit sehr hohem zeitlichem Aufwand lösen. Der Vergleich mit Musterlösungen und normierten Zeitvorgaben wird ihnen nicht gerecht. Das Testergebnis zeigt nicht ihre realen Kompetenzen, sondern unterschätzt sie oder bildet sie gar nicht ab.
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Motorische Schwierigkeiten führen beim Sprechen oft zu schwer verständlichen Äußerungen, die nur von Personen interpretiert und verstanden werden, die über Erfahrung im Umgang mit dem Kind verfügen. Die Vorgabe und Protokollierung eines Tests allein durch eine fachlich qualifizierte Person ist nicht möglich oder führt zu Ergebnissen, welche die Kompetenzen eines Kindes extrem unterschätzen.
Mit dem Ziel, auch im Bereich der Motorik objektive, reliable und valide Daten zu erheben, werden in der Fachliteratur spezielle Tests empfohlen. Beispielhaft seien zwei relativ bekannte Verfahren skizziert, die schon in den 1970er Jahren konzipiert und seitdem mehrmals revidiert und aktualisiert worden sind.
Der Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder (MOT 4-6) von Zimmer (2015) erfasst den motorischen Entwicklungsstand von Kindern im angegebenen Alter und bei Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen auch darüber hinaus. In 17 Testaufgaben wird in spielerischer und kindgerechter Weise der Entwicklungsstand hinsichtlich gesamtkörperlicher Gewandtheit und Beweglichkeit, feinmotorischer Geschicklichkeit, Gleichgewichtsvermögen, Reaktionsfähigkeit, Sprungkraft und Schnelligkeit, Bewegungsgenauigkeit und Koordinationsfähigkeit erfasst. Die Kinder müssen u.a. ein- und zweibeinig hoch und weit sowie seitlich springen, Bälle werfen, Bälle und Ringe fangen, Balancieren und Drehsprünge ausführen, Streichhölzer einsammeln oder komplexe Körperbewegungen nachmachen. Jede Aufgabe wird nach Vorgaben bewertet und die Gesamtpunktzahl wird mit halbjahresgestuften Normwerten verglichen.
Der Körperkoordinationstest für Kinder (KTK) von Kiphard und Schilling (2017) misst den Entwicklungsstand der Gesamtkörperbeherrschung von Kindern mit und ohne Behinderungen im Alter von 5 bis 14 Jahren. Die Kinder müssen auf einem 3 m langen Balken rückwärts balancieren, aufgeschichtete Schaumstoffplatten einbeinig überspringen, zweimal 14 Sekunden lang seitlich hin- und herspringen und sich auf Holzbrettchen durch Umsetzen seitwärts bewegen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Für jede dieser Aufgaben gibt es Beobachtungs- und Bewertungsvorgaben, das Gesamtergebnis wird mit alters- und geschlechtsspezifischen Normwerten verglichen.
Solche Bewegungsanforderungen, argumentiert Haupt (2003), gehen weit über die Bewegungsmöglichkeiten vieler körperlich beeinträchtigter Kinder hinaus. Sie vermitteln den Eindruck, ein Kind sei weitgehend bewegungsunfähig. Sie zeigen keine Ansätze, an denen pädagogische Förderung ansetzen könnte. Ein Vergleich mit Leistungsnormen, die mit nicht beeinträchtigten Kindern gewonnen wurden, ist pädagogisch wenig ertragreich, denn er bestätigt nur pauschal die motorische Leistungsschwäche, die bereits vor der Untersuchung bekannt war. Eine distanzierte Diagnostik durch objektive Testverfahren, folgert Haupt (2003, S. 22-24), führe zur Suche nach Defiziten und sie entmutige die Kinder. Haupt fordert stattdessen eine engagierte Diagnostik in verantworteter Subjektivität. In dialogisch geführten, offenen Verfahren sollte versucht werden, ermutigende Ansätze zu finden, an denen pädagogische Förderung anknüpfen kann, so dass „es Teil des diagnostischen Prozesses ist herauszufinden, welche Bedingungen dem Kind helfen, seine Kompetenzen am besten zu zeigen“ (Haupt, 2003, S. 45). Hier bieten sich informelle diagnostische Gespräche und Verhaltensbeobachtungen an, eventuell teilstrukturiert durch Beobachtungsbögen, Checklisten, Leitfäden und Fragebögen, wie im letzten Abschnitt weiter oben bereits dargestellt wurde.
Wie lassen sich lernbedeutsame Kompetenzen im inklusiven Mathematikunterricht diagnostizieren?
Die dialogisch geführte, offene und auf Förderung ausgerichtete Diagnostik, die Haupt fordert, ist für Lehrerinnen und Lehrer viel relevanter als die Diagnostik mit Testverfahren. Lernschwierigkeiten entstehen im Mathematikunterricht nämlich nicht als Folgen motorischer Beeinträchtigungen, sondern immer dann, wenn die Anforderungen, die eine Aufgabe an ein Kind stellt, seine aktuellen Lernmöglichkeiten und die zur Verfügung stehenden schulischen Ressourcen übersteigt. Lehrkräfte können präventiv auf auffälliges Lernverhalten achten und sich bei der Passung zwischen Aufgabe und Kind an der Leitidee Diagnosegeleitet Fördern orientieren.
Kann ich im Unterricht präventiv auf auffälliges Lernverhalten achten?
Diagnostik muss nicht zu gesonderten Zeiten und an besonderen Orten durchgeführt werden, sie kann auch integriert in den Unterricht stattfinden. Durch informelle und fortlaufende Beobachtung in Unterrichtssituationen kann die Lehrperson oft schon frühzeitig auffällige Verhaltensweisen und ggf. näher zu untersuchende Entwicklungsbereiche erkennen. Um Sie für die Wahrnehmung spezifischer Auffälligkeiten im Unterricht zu sensibilisieren, die bei motorischen Beeinträchtigungen häufiger zu beobachten sind, werden im Folgenden einige ausgesuchte Auffälligkeiten vorgestellt, die sich im Verhalten eines Kindes im Unterricht zeigen können. Lehrerinnen und Lehrer sollten Verständnis für diese auffälligen Verhaltensweisen aufbringen, denn sie erschweren und schränken die Lernaktivtäten eines Kindes ein und sind manchmal von Schmerzen und oft von negativen Emotionen begleitet (vgl. Leyendecker, 2005, S. 127-136 und Mötsch, 2022).
Die Körperhaltung wird durch das Knochengerüst und die Tonusverhältnisse der Muskulatur bestimmt. Auffälligkeiten zeigen sich vor allem in der Grobmotorik:
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Schwierigkeiten beim Balancieren, Gehen, Hüpfen und aufrechten Sitzen sind bei Verkrümmung oder Verdrehung der Wirbelsäule zu beobachten, verstärkt beim Treppensteigen und Rückwärtsgehen und bei Turnübungen,
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manchmal auch Fehlbelastung durch falsche Hand- oder Fußstellung.
Die Feinmotorik kann im Umgang mit Unterrichtsmaterialien, bei alltäglichen Verrichtungen, in Spielsituation und vor allem beim Erlernen der Kulturtechniken beobachtet werden:
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Schwierigkeiten beim Greifen und Legen von Material im Mathematikunterricht,
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Schwierigkeiten beim Ausmalen und beim Ausschneiden, eingeschränkte Beweglichkeit der Finger und Handgelenke, keine fließenden Bewegungen,
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verkrampfte Stifthaltung, zu starkes Aufdrücken und rasches Ermüden beim Schreiben oder zittriges Schriftbild bei zu geringem Schreibdruck, zu große oder zu kleine Buchstaben, kaum lesbare Schrift.
Die folgenden drei Abbildungen verdeutlichen exemplarische Auffälligkeiten in den Schriftbildern körperlich und motorisch behinderter Kinder (Leyendecker, 2005, S. 133):
Wenig koordinierte Platzierung der Buchstaben und zu geringer Schreibdruck bei schlaffem Muskeltonus (Ataxie)
Erhöhter Griff- und Schreibdruck bei überhöhtem Muskeltonus (Spastik)
Schriftbild bei unkontrollierbar wechselndem Muskeltonus (Atheose): ausfahrende und relativ krakelige Schrift mit wenig ausgebildeten Rundbögen und unregelmäßigen Abständen zwischen den Buchstaben und Wörtern
Im Bereich der Sensorischen Integration, das ist die Koordination und Interpretation von Wahrnehmungen aus unterschiedlichen Sinnesmodalitäten, vorrangig die Wahrnehmung von Gleichgewicht, Empfindungen aus dem Körperinneren und Tastsinn, zeigen sich bei manchen Kindern Entwicklungserschwernisse als Folgen primärer motorischer Störungen (Bergeest & Boenisch, 2019, S. 214-217):
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übermäßige Empfindlichkeit für Berührungsreize, Bewegungen, visuelle Reize und Geräusche bzw. schwache Reaktion auf Sinnesempfindungen,
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außergewöhnlich hohes bzw. niedriges Aktivitätsniveau,
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Schwierigkeiten bei der Koordination von Bewegungen, insbesondere bei der Auge-Hand-Koordination.
Wie kann ich die Leitidee Diagnosegeleitet Fördern nutzen?
In der pädagogisch motivierten, unterrichtsintegrierten Diagnostik versucht die Lehrkraft festzustellen, welche Kompetenzen ein Kind bereits erfolgreich erwerben konnte, welche Kompetenzen noch nicht oder nur unzureichend beherrscht werden und was sinnvolle nächste Schritte der pädagogischen Förderung sein können. In der Leitidee „Diagnosegeleitet fördern“ wird Diagnose und Förderung in diesem Sinne auf das Engste miteinander verknüpft. Es wird gezeigt, wie Unterricht so geplant und organisiert werden kann, dass individuell passende Aufgaben und Aufgabenvarianten entwickelt werden, welche die Lernenden nicht unterfordern und langweilen, sie jedoch auch nicht überfordern und entmutigen, weil sie fachlich zu schwierig, sprachlich schwer verständlich oder in ihren psychomotorischen Anforderungen unpassend gestaltet sind.
Die höchst individuelle und bisweilen sehr schwierige Lebenslage von Kindern mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen erfordert eine individuelle, einfühlsame und verständnisvolle Diagnostik. Dabei darf die Lehrkraft nicht voreilig von der Schwere bestimmter Funktionseinschränkungen auf etwaige Erschwernisse des schulischen Lernens schließen. Es kann nämlich durchaus vorkommen, dass eine gravierende körperliche Funktionseinschränkung – z. B. eine Lähmung – für das mathematische Lernen wenig folgenreich ist, während eine vergleichsweise geringere Funktionseinschränkung – etwa eine Aufmerksamkeitsstörung – im Mathematikunterricht nahezu durchgängig zu beachten ist.
Im Schulgesetz Nordrhein-Westfalen (2005) ist festgelegt, dass bei Lernenden mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich der körperlichen und motorischen Entwicklung grundsätzlich zielgleiche Bildungsabschlüsse anzustreben sind, auch wenn zusätzlich Unterstützungsbedarf in anderen Bereichen wie Hören, Sehen oder Sprache vorliegt (§ 19). Nur bei weiterem Unterstützungsbedarf in den Bereichen Lernen oder Geistige Entwicklung können die Lernenden in zieldifferenten Bildungsgängen mit eigenen Abschlüssen unterrichtet werden (§ 12).
Eine ausführliche Zusammenstellung praxisbezogener Informationen zu verschiedenen Arbeits- und Entwicklungsfeldern bieten die „Sonderpädagogischen Bausteine“, die von Lehrerinnen und Lehrern erarbeitet und von Ruth Maria Mötsch (2022) zusammengestellt worden sind. Aufgeteilt nach 11 Entwicklungsbereichen (z.B. Rechnen, Lernen und Leisten, Motorik, Feinmotorik, visuelle und auditive Wahrnehmung, Sprache und Sprechen) finden Sie Informationen zu Testverfahren, zur Beratung sowie Fördervorschläge und weitere Quellenhinweise.
Die Sonderpädagogische Bausteine können im Sonderpädagogischen Förderzentrum Jakob-Muth-Schule in Regensburg bestellt werden, im Internet erreichbar unter http://sonderpaedagogische-bausteine.de/.
Diese Seite wurde mit Unterstützung von Dr. Ria-Friederike Kirchhof
vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ erstellt.