Im Bereich der geistigen Entwicklung scheint sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf oft besonders ausgeprägt zu sein und häufig herrscht die Auffassung vor, dieser sei eine unmittelbare Folge der persönlichen Beeinträchtigungen einzelner Schülerinnen und Schüler. Man darf jedoch nicht übersehen: Unterstützungsbedarf entsteht aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen. Folglich stellen sich im Schwerpunkt Geistige Entwicklung zwei diagnostische Fragen:

  • Liegt bei einem Kind sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Sinne einer geistigen Behinderung vor?
  • Welche Kompetenzen kann das Kind in den Unterricht einbringen? An welchen Stellen zeigen sich Ansätze für Lern- und Entwicklungsförderung und welche schulischen Ressourcen können genutzt werden?

In diesem Abschnitt wird zunächst im Überblick betrachtet, wie sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung diagnostiziert wird. Es wird dargestellt, wie und warum dabei standardisierte und normierte Testverfahren eingesetzt werden und welche Bedeutung Intelligenztests zukommt. Die Darstellung wird sich auf die praktische Anwendung beschränken, die Vor- und Nachteile solcher Testverfahren werden auf den Projektseiten zum AO-SF diskutiert (vgl. Pädagogische Tests und Intelligenzmessung).

Anschließend werden Möglichkeiten der Diagnostik in Entwicklungsbereichen erörtert und wir werden auf Verfahren der unterrichtsintegrierten Diagnostik verweisen, die für die Planung und Analyse von inklusivem Mathematikunterricht besonders relevant sind.

 

Wie lässt sich sonderpädagogischer Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Geistige Entwicklung feststellen?

Wenn ein Schüler oder eine Schülerin in der Schule langdauernd wenig erfolgreich lernt, stellt sich die Frage, ob sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf vorliegt und wenn ja, ob die Lern- und Entwicklungsrückstände von Umfang und Schweregrad einer Lernbehinderung oder einer geistigen Behinderung  entsprechen. Diese Fragen sind in einem rechtlich geordneten Verfahren mit großer Sorgfalt zu klären. Eine voreilige Anerkennung von Unterstützungsbedarf in den Schwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung sollte vermieden werden, denn sie hat zwei Konsequenzen:

  • Sie berechtigt einerseits dazu, für die Lernenden dauerhaft besondere pädagogische Hilfen in der schulischen und später in der beruflichen Ausbildung in Anspruch zu nehmen.
  • Sie führt andererseits zu einer Beschulung gemäß einem zieldifferenten Bildungsgang mit erheblich reduzierten Leistungserwartungen, die sich tendenziell leistungsmindernd auswirken (für ein empirisches Beispiel zum Mathematikunterricht vgl. Hollenstein, Affolter & Brühwiler, 2019).

Die rechtlichen Vorgaben gestaltet jedes Bundesland in eigener Verantwortung. In Nordrhein-Westfalen finden sich die maßgeblichen schulrechtlichen Bestimmungen in der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF). Sie legt in § 3 fest, dass Geistige Behinderung einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung begründen kann und in § 5 wird konkreter ausgeführt (AO-SF, 2022):

Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung besteht, wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist, und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafürsprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.

Die Ausführungen auf dieser Webseite beziehen sich auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen und die Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung (AO-SF, 2022), über die wir an anderer Stelle unseres Webangebots (AO-SF ) informieren. Diese regelt verwaltungsrechtliche und organisatorische Fragen wie die Anhörung der Eltern und Erziehungsberechtigten und deren Rechte, die Zuständigkeiten und die Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer, die Qualität der zu verwendenden Testinstrumente und die zu deren Anwendung erforderlichen fachlichen Qualifikationen. In anderen Bundesländern gibt es ähnliche, in Details durchaus abweichende schulrechtliche Regelungen.

Welche Bedeutung kommt Intelligenztests zu?

Weil die Zuerkennung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich der geistigen Entwicklung Vor- und Nachteile mit sich bringen kann, soll sie nicht auf weitgehend subjektive Eindrücke und Urteile gründen. Vielmehr sollen objektive, reliable und valide Daten in einem standardisierten Prozeß erhoben, dokumentiert und interpretiert und im Vergleich mit geprüften Normen bewertet werden (vgl. Pädagogische Tests).

Zur Diagnose von Entwicklungsbeeinträchtigungen im Sinne einer geistigen Behinderung werden Intelligenztests empfohlen (Castello, Grünke & Beelmann, 2014). Diese dürfen nur von eigens ausgebildeten und autorisierten Fachleuten angewendet werden, in der Regel Schulpsychologinnen und Schulpsychologen oder Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung. Intelligenztestergebnisse lassen sich zwar nur sehr eingeschränkt für Zwecke der schulischen Förderung nutzen (s.u. und AO-SF – Intelligenzmessung), aber ihnen kommt bei der schulrechtlichen Legitimierung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Geistige Entwicklung zentrale Bedeutung zu.

Intelligenztests erfassen in vielfältigen Aufgaben, die sich als typische Aufgaben für bestimmte Altersgruppen bewährt haben, kognitive Basisfähigkeiten wie das sprachliche Denken, das numerische Denken, das räumliche Vorstellungsvermögen, die visuelle und die auditive Wahrnehmung, die Merkfähigkeit oder die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit bis hin zu Formen des abstrakten schlussfolgernden Denkens. Solche Fähigkeiten stellen individuelle Potenziale dar, die ein Mensch beim akademischen Lernen einsetzen kann, die aber auch für praktische Tätigkeiten und für soziale Anpassungsleistungen relevant sind. Sie werden durch schulische Bildung beeinflusst, sind aber nicht zu verwechseln mit schulisch vermittelten Inhalten und Fertigkeiten (Tröster, 2019).

Wenn Intelligenztests unter standardisierten Bedingungen eingesetzt und ausgewertet werden, lässt sich statistisch bestimmen, ob und wie deutlich die individuelle Leistung eines Kindes oder eines/einer Jugendlichen von der durchschnittlichen Leistung altersgleicher Personen abweicht. In der Regel werden die Ergebnisse als Intelligenzquotienten (IQ) ausgedrückt, für die gilt: Individuelle Testergebnisse größer 100 weisen auf überdurchschnittliche Leistungen im Vergleich zu altersgleichen Personen hin, individuelle Testergebnisse kleiner 100 auf unterdurchschnittliche Leistungen und je weiter ein individuell erzielter IQ von 100 entfernt ist, desto besser bzw. schwächer ist die Leistung im Vergleich zum Altersdurchschnitt.

Abb.1: Lage der Grenzwerte für zwei Schweregrade geistiger Behinderung auf der Skala der IQ-Werte (eigene Darstellung)

 

Die Abbildung zeigt eine idealisierte Verteilung der Auftretenshäufigkeit von IQ-Werten und die Lage sowie die Häufigkeit von zwei Werten, die bei der statistischen Definition von geistiger Behinderung konventionell als Grenzwerte benutzt werden. Das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hat vier von der Weltgesundheitsorganisation international eingeführte Schweregrade von Intelligenzminderung unterschieden (Bundesinstitut für Arzneimittelforschung und Medizinprodukte, 2022, F70-F79):

IQ 50-69       leichte geistige Behinderung / leichte Intelligenzminderung

IQ 35-49       mittelschwere geistige Behinderung/mittelgradige Intelligenzminderung

IQ 20-34       schwere geistige Behinderung / schwere Intelligenzminderung

IQ < 20          schwerste geistige Behinderung / schwerste Intelligenzminderung

Es wird deutlich, dass die hier genannten IQ-Werte in unausgelesenen Stichproben nur selten gemessen werden. Bereits eine geistige Behinderung relativ leichten Grades wird nur in knapp 2,3 Prozent aller Testungen festgestellt (IQ 50-69), mittelschwere geistige Behinderung in weniger als 0,1 Prozent aller Testungen.

Wie lassen sich Intelligenztestergebnisse pädagogisch interpretieren?

Mit einem Intelligenztest lässt sich die allgemeine Entwicklung der kognitiven Funktionen eines Kindes einschätzen. Bei erheblichen Entwicklungsrückständen ist sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf zu vermuten.

Intelligenztests haben sich bewährt, wenn es um die Abgrenzung der Förderschwerpunkte Lernen und Geistige Entwicklung geht, aber bei schweren Beeinträchtigungen stoßen sie an Grenzen:

  • Intelligenztests können bei Menschen mit schweren und komplexen Beeinträchtigungen nicht sinnvoll eingesetzt werden, weil verbale Kommunikation nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, weil das Kind ihm fremde Personen in vom Alltag abweichenden Testsituationen oft nicht akzeptiert und weil es vorgegebene Aufgaben allein und unter Zeitdruck nicht bearbeiten kann (Nußbeck, 2008, S. 10).
  • Mittelgradige, schwere und schwerste Intelligenzminderungen lassen sich nicht zuverlässig und valide messen, weil bei der Normierung von Tests mittels Eichstichproben an den extremen Rändern der Werteverteilung nur äußerst selten Ergebnisse gemessen werden. Das führt teststatistisch dazu, dass die Messungen von besonders hohen und besonders schwachen Leistungen weniger zuverlässig sind als die Messungen im mittleren Bereich der Werteverteilung, die häufig vorkommen. Bei schwerer und schwerster geistiger Beeinträchtigung lassen sich die Ergebnisse auf der Skala der IQ-Werte gar nicht darstellen, denn sie kommen aus den genannten Gründen praktisch nicht vor (Nußbeck, 2008, S. 10).
  • In den derzeit verfügbaren Intelligenztests finden sich nur sehr wenige Aufgaben, die für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen passend sind. Solche Aufgaben werden nicht gerne in einen Test aufgenommen, weil sie für nahezu alle weiteren Lernenden zu leicht wären und sich teststatistisch negativ auswirken (Renner & Mickley, 2015; Neumann, Nestler, Da Lührs Silva & Allroggen, 2019). Folglich sind die gängigen Tests für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen nicht geeignet und man kann nur versuchen, durch die Variation von Items, durch die Verwendung von Items für jüngere Personen und durch die Erstellung und Verwendung von informellen Skalen aussagekräftige Daten zu gewinnen. Langfeldt und Prücher (2001) haben 66 Gutachten über geistig beeinträchtigte Kinder und Jugendliche an Schulen analysiert und nur in gut einem Fünftel Intelligenztestergebnisse finden können. In der großen Mehrzahl der Fälle hatten die Gutachtenden auf informelle, weitgehend subjektive Verfahren gesetzt.

Im Hinblick auf die pädagogische Interpretation der Testergebnisse ist Vorsicht geboten, weil Intelligenztests nicht curricular verankert sind, d. h.  sie informieren nicht über den Entwicklungsstand eines Kindes in Relation zu den schulischen Kompetenzerwartungen. Da Intelligenztests nach Altersgruppen normiert werden, sind sie auch nicht geeignet, kurz- und mittelfristige Lern- und Entwicklungsfortschritte abzubilden (vgl. dazu AO-SF – Intelligenzmessung).

Oftmals hegen Eltern und Lehrpersonen bei der Interpretation von Intelligenztestergebnissen pessimistische Erwartungen, was die Entwicklung eines Kindes angeht. Vorausgesetzt, ein IQ ist korrekt gemessen worden, kann man zwar nicht erwarten, dass dieser sich kurz- oder mittelfristig stark verändert, aber daraus folgt nicht, dass das Kind nicht dazulernen oder sich nicht weiterentwickeln wird. Vielmehr ist zu erwarten, dass das Kind bei guter schulischer Bildung deutliche Entwicklungsfortschritte zeigen sollte. Wenn ein Kind sein Verständnis von Mengen und Zahlen in einem guten Mathematikunterricht oder dank gezielter Förderung erkennbar verbessern kann, so sind das schulisch und lebenspraktisch wertvolle Lernergebnisse, unabhängig davon, ob sie sich im gemessenen IQ zeigen.

Wie lassen sich schulisch relevante Kompetenzen diagnostizieren?

Ein Intelligenztestergebnis allein sagt über ein Kind und seine schulische Situation noch nicht viel aus:

  • Das schulische Lernen basiert nicht allein auf dem Kind und seiner allgemeinen kognitiven Anpassungsfähigkeit, sondern auf zahlreichen kognitiven, sprachlichen, motorischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen, die für schulisches Lernen wichtig sind. Um im Unterricht an solche schulisch relevanten Kompetenzen anknüpfen zu können, sollten sie differenziert diagnostiziert und dokumentiert werden.
  • Unterstützungsbedarf entsteht, wie zu Beginn dieses Abschnitts festgestellt, aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen. Folglich gilt es zu versuchen, ein Kind in seiner aktuellen Lern- und Lebenssituation sowie in seiner schulischen Situation einfühlend zu verstehen.

Im Folgenden werden wir zunächst zeigen, dass sich das diagnostische Gespräch und die direkte Beobachtung des kindlichen Verhaltens als elementare diagnostische Methoden adaptiv nutzen lassen, um ein Kind und seine Lern- und Lebenssituation zu erkunden. Anschließend werden wir darstellen, welche Methoden angewendet werden können, um schulisch relevante Kompetenzen eines Kindes zu diagnostizieren.

Inwiefern sind Gespräch und Verhaltensbeobachtung diagnostisch ergiebige Methoden?

Das diagnostische Gespräch und die direkte Verhaltensbeobachtung sind elementare Methoden der pädagogischen Diagnostik, die frei gestaltet und adaptiv eingesetzt werden können und deshalb geeignet sind, aussagekräftige Informationen über das Kind, seinen Werdegang und seine aktuelle Situation zu erheben (Wolf & Bienstein, 2019).

In einem diagnostischen Interview werden signifikante Bezugspersonen eines Kindes oder das Kind selbst befragt. Die Eltern und Geschwister eines Kindes sowie seine bisherigen pädagogischen Fachkräfte sind oft gute GesprächspartnerInnen. Sie können über die Entwicklung eines Kindes allgemein und speziell über seine Entwicklung und sein Verhalten in der Schule Auskunft geben. Die Fragen können vorab geplant und individuell abgestimmt werden, der Gesprächsverlauf ist nicht vorgegeben und kann aktuell sich ergebenden Themen folgen. Darüber hinaus sollte, wann immer möglich, das Kind selbst gehört werden, am besten in einem einfühlsam geführten Gespräch mit ihm vertrauten Personen, denn es ist wichtig zu erfahren, wie das Kind selbst sich und die Schule und die dort gestellten Anforderungen erlebt.

Bei einer Verhaltensbeobachtung wird das Kind geplant und gezielt beobachtet, um zu ermitteln, wie es sich in bestimmten wichtigen Situationen und bei bestimmten Anforderungen verhält. Die Situationen können frei gewählt und die Anforderungen können vorab gestaltet werden, bei der Feststellung von Unterstützungsbedarf wird man vor allem das individuelle Verhalten beim Umgang mit schulischen Aufgaben, das Lern- und Arbeitsverhalten im Unterricht sowie das Sozialverhalten im Umgang mit anderen Kindern und mit Lehrkräften zu beobachten suchen.

Gespräch und Verhaltensbeobachtung können weitgehend individualisiert und adaptiv eingesetzt werden, um relevante Daten erheben zu können, aber eine solche Freiheit führt nicht immer zum Ziel, denn sie bringt die Gefahr subjektiver Beliebigkeit mit sich (ISB, 2018):

  • Wie lassen sich diagnostische Gespräche mit einem Kind führen? Welche Bezugspersonen kommen als GesprächspartnerIinnen in Betracht? Welche Themen sollen wie und mit wem angesprochen werden? Welche Fragen sollen gestellt, welche Impulse gegeben werden?
  • Welche Situationen sind für Verhaltensbeobachtungen geeignet? Auf welche Verhaltensweisen sollte geachtet werden? Wie können die beobachteten Verhaltensweisen beschrieben und dokumentiert werden?

Bei der Durchführung und Dokumentation von Gesprächen und Verhaltensbeobachtungen kann es zu erheblichen Verzerrungen und Beurteilungsfehlern kommen, weil die diagnostizierende Person die verbalen Äußerungen und Verhaltensweisen seiner InteraktionspartnerInnen nur vor dem subjektiven Hintergrund der eigenen Biografie und der eigenen Erfahrungen nachvollziehen und beurteilen kann:

  • Gespräche können misslingen, weil kein guter Kontakt zwischen den Teilnehmenden entsteht. Äußerungen können missverstanden oder unzureichend protokolliert und später falsch gedeutet werden.
  • Verhaltensbeobachtungen unterliegen vielfältigen Fehlertendenzen. Viele Pädagoginnen und Pädagogen neigen zu besonders wohlwollenden Urteilen, andere urteilen besonders streng. Manche Personen vermeiden extreme Urteile, sie neigen zu Urteilen im mittleren Bereich und zu insgesamt harmonischen Beschreibungen, nicht selten auf der Basis von impliziten Persönlichkeitstheorien oder vorgefassten Meinungen.

Die klassische Methode, solche Fehler näherungsweise zu kontrollieren, ist das Vier-Augen-Prinzip durch Einsatz zweier Personen, die sich in einem Gespräch oder bei einer Beobachtung unterstützen und später ihre Eindrücke vergleichen, reflektieren und abstimmen können. In der Praxis fällt es angesichts personeller Engpässe vielen Schulen allerding sehr schwer, den dazu nötige Aufwand zu erbringen.

Diagnostische Interviews und freie Verhaltensbeobachtungen können sehr unterschiedlich und wenig systematisch angelegt sein, das erschwert die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. In den letzten Jahren sind Beobachtungshilfen, Leitfäden, Fragebögen, diagnostische Inventare und Entwicklungsskalen erschienen. Sie verfolgen das Ziel, Beobachtungen und diagnostische Gespräche nicht in das subjektive Belieben einzelner Personen zu stellen, sondern diese thematisch vorzustrukturieren, mögliche Impulse vorzugeben, die Protokollierung und Dokumentation der Ergebnisse zu erleichtern und Anregungen zu einer systematischen Erhebung, Analyse und Beurteilung von schulisch relevanten Kompetenzen zu geben, was im Folgenden an einem Beispiel gezeigt werden soll.

Welche Bedeutung hat die Diagnostik von Kompetenzen in Entwicklungsbereichen?

Die meisten Verfahren zur Strukturierung von diagnostischen Beobachtungen und Gesprächen wurden aus der praktischen Arbeit heraus entwickelt (z. B. Eggert & Reichenbach, 2021; Fleckenstein, Jankuhn, Meiering & Scholz, 2021; Fröhlich & Haupt, 2004; Schäfer, Zentel & Manser, 2022). Sie decken zumeist einen breiten Bereich von vielfältigen, in der Regel lebenspraktisch orientierten Kompetenzen ab. Sie orientieren sich an Entwicklungsbereichen, das sind Bereiche der persönlichen Entfaltung, die zu einer möglichst selbstständigen Lebensgestaltung und möglichst uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe führen (MSB, 2022, S. 11), in Zukunft vermutlich vermehrt an den Vorschlägen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2021, S. 6-9) bzw. an den Vorgaben der Bundesländer (vgl. MSB, 2022 für Nordrhein-Westfalen).

Abb.2: Die sechs Fähigkeitsbereiche im Diagnostischen Leitfaden zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs (Fleckenstein et al., 2023, S. 13)

 

Der Diagnostische Leitfaden zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs von Fleckenstein et al. (2023) soll hier als Beispiel dienen. Er erfasst sechs so genannte Fähigkeitsbereiche und zu diesen insgesamt 50 Beobachtungsaspekte. Die Fähigkeitsbereiche 2, 3, 4 und 6 finden Entsprechungen in den Entwicklungsbereichen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2021, S. 6-9) bzw. in den Entwicklungsbereichen der Unterrichtsvorgaben für den zieldifferenten Bildungsgang Geistige Entwicklung in Nordrhein-Westfalen (MSB, 2022). Das Lern- und Arbeitsverhalten wird weder bei der KMK noch in den Unterrichtsvorgaben genannt, wird jedoch wegen seiner praktischen Relevanz in Leitfäden und diagnostischen Inventaren häufig angesprochen. Das soziale Bedingungsfeld ist zwar ebenfalls praktisch bedeutsam, aber es passt nicht zur Kategorie der Fähigkeitsbereiche, denn es erfragt Umfeldfaktoren, aber keine persönlichen Kompetenzen.

Abb. 3: Zwei Fähigkeitsbereiche und die ihnen zugeordneten Beobachtungsaspekte im Diagnostischen Leitfaden zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs (Fleckenstein et al., 2023, S. 15)

Die Abbildung zeigt zwei Fähigkeitsbereiche und die ihnen zugeordneten Beobachtungsaspekte im Diagnostischen Leitfaden zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs (Fleckenstein et al., 2023). Die Einteilung in Fähigkeitsbereiche orientiert sich lose an den Vorschlägen zu den Entwicklungsbereichen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2021). Sie wird nicht systematisch begründet, ihr pragmatischer Nutzen wird unterstellt.

Die so genannten Beobachtungsaspekte werden in Items erfasst, die durch Ankreuzen abgestuft zu beantworten sind, aber das ist nicht einfach:

  • Die Beobachtungsaspekte sind nicht immer verständlich und nicht immer eindeutig und so formuliert, dass sie sich auf Beobachtungen beziehen.
  • Die Anzahl von Beobachtungsaspekten variiert in den Fähigkeitsbereichen beträchtlich, zu den sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten werden z. B. nur drei Items angeboten, die sehr allgemein und interpretationsbedürftig formuliert sind.
  • Die Beobachtungsaspekte erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Schätzurteile, die in der Regel nicht nach gezielter Beobachtung getroffen werden, sondern in der Erinnerung und Reflexion von angefallenen Alltagsbeobachtungen.

Die Objektivität, Reliabilität und Validität der diagnostischen Daten lässt sich auf der Basis von solchen Schätzurteilen nicht sichern, die im besten Fall auf Beobachtungen beruhen, deren Güte jedoch nicht geprüft werden kann. Trotz dieser methodischen Vorbehalte können Beobachtungshilfen, Leitfäden, Fragebögen und diagnostische Inventare eine systematische und praktisch-handlungsorientierte Informationsgewinnung und deren Berichtlegung anregen (ISB, 2018). Methodische Verbesserungen von diagnostischen Daten werden bislang nur in Ansätzen erreicht (Wolf & Bienstein, 2019), wohl aber eine einheitliche Reflexion von Alltagsbeobachtungen und eine vergleichbare Dokumentation der Ergebnisse.

Wie kann ich die Leitidee Diagnosegeleitet fördern im Mathematikunterricht nutzen?

Bei Kompetenzen, die in den Entwicklungsbereichen erfasst werden, handelt es sich fast immer um Kompetenzen, die ein Kind beim schulischen Lernen erfolgversprechend einsetzen kann. Es sind jedoch keine Kompetenzen, die mit den spezifischen Zielen und Kompetenzen zu verwechseln sind, die im fachlichen Unterricht erreicht und erworben werden sollen. Diese werden traditionell mit Schulleistungstests gemessen, die auf Schulfächer und Klassenstufen ausgerichtet sind. Wir haben Schulleistungstest für das Fach Mathematik auf dieser Webseite in unserem Angebot zur AO-SF im Abschnitt Schulleistungsmessung  dargestellt und diskutiert. Dort wird unter anderem mit dem BASIS-MATH-G 3+ ein Verfahren vorgestellt, das nicht nur die vergleichende Messung von Mathematikleistungen erlaubt, sondern darüber hinaus die Erfassung individueller Rechenwege und Lösungsstrategien bei der Bearbeitung einzelner Aufgaben (Moser Opitz, Stöckli, Grob, Reusser & Nührenbörger, 2019).

Die Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs ist eine zentrale Schaltstelle in der Bildungsbiografie eines/einer Heranwachsenden. Lehrkräften stellen sich im schulischen Alltag jedoch andere diagnostische Fragen, die direkt auf den Unterricht bezogen sind:

  • Welche Kompetenzen konnte ein Kind bereits erfolgreich erwerben?
  • Welche Kompetenzen werden noch nicht oder nur unzureichend beherrscht?
  • Was könnten sinnvolle nächste Schritte der Anregung und Förderung im Unterricht sein?

Fragen wie diese müssen unterrichtsnah und für jedes Schulfach gesondert gestellt und mit qualitativ orientierten Verfahren bearbeitet werden, die das fachliche Lernen der Schülerinnen und Schüler direkt in den Blick nehmen. Dabei wird man nicht umhinkommen, eigene Aufgaben zu formulieren, eigene Skalen zusammenzustellen und die Antworten und Reaktionen der Lernenden eigenständig diagnostisch zu deuten, um wirksame förderliche Maßnahmen zu entwickeln (Pott, 2019, S. 103-110).

In diesem Sinne wird Rahmen der Leitidee „Diagnosegeleitet fördern“ vorgeschlagen, Diagnose und Förderung auf Engste miteinander zu verbinden und direkt auf die Inhalte und Ziele des Unterrichts zu beziehen:

Diagnose- und Fördermomente zeigt, dass Lehrkräfte im Unterricht kontinuierlich diagnostisch und fördernd tätig sind und dass sich durch „geschicktes“ Nachfragen oder „kleine“ Impulse während der Arbeitsphasen nicht selten spontane Diagnose- und Fördermomente ergeben.

Diagnose- und Fördergespräche  können umfassende Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden liefern und Grundlage für Fördermaßnahmen sein, wenn sie kompetent vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden.

Diagnose- und Förderaufgaben wollen mit Bedacht formuliert sein, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und die Entwicklung dieser zu fördern.

Planung von Förderung formuliert individuelle Kompetenzerwartungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und erleichtert die Zusammenarbeit der Lehrkraft mit weiteren „Expert*innen“ wie Sonderpädagog*innen, Eltern, Therapeut*innen, Ärzt*innen, etc.

Unterrichtsrelevante Tests dienen der Feststellung eines punktuellen Lernstands (Lernstandsdiagnose), um die Kompetenzen eines Kindes als Ausgangspunkte für die weitere Lernentwicklung zu nutzen.

Eine Unterrichtsorganisation, die auf selbstständiges Lernen setzt, betont die besondere Bedeutung eines unterrichtsintegrierten „Diagnose- und Förderkreislaufs“, denn Förderung ohne vorangehende Diagnose erfolgt in der Regel unspezifisch, wohingegen Diagnose ohne darauf aufbauende Förderung häufig wirkungslos bleibt (vgl. Hußmann & Selter, 2013).