Lernschwierigkeiten zeigen sich in Schule und Unterricht zwar als Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler, aber sie entstehen aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lernmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen.
Die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) des Landes NRW verlangt festzustellen, ob bei einem oder einer Lernenden sonderpädagogischer Förderbedarf im Sinne einer Lernbehinderung vorliegt oder nicht. Es ist gemäß Definition zu prüfen, ob bei einem Kind umfängliche, langdauernde und schwerwiegende Lern- und Leistungsrückstände vorliegen. Erst im Anschluss daran ist zu beschreiben, in welchen spezifischen Bereichen ein individuelles Kind auf welche Art und Weise zu fördern ist und wer, wann und an welchem Ort der Beschulung diese Förderangebote bereitstellen kann.
Die erste Frage ist eine Frage der
klassifizierenden Diagnostik, die versucht festzustellen, welche Lernenden über bestimmte Eigenschaften verfügen, um ihnen gezielte Hilfen zukommen zu lassen. Die zweite Frage ist eine Frage der
entwicklungsorientierten Diagnostik, die versucht festzustellen, welche Kompetenzen ein Kind bereits erfolgreich erwerben konnte, welche Kompetenzen noch nicht oder nur unzureichend beherrscht werden und was sinnvolle nächste Schritte der pädagogischen Förderung sein könnten.
Klassifizierende Diagnostik
Angesichts der erheblichen Folgen, welche die Zuschreibung sonderpädagogischen Förderbedarfs für ein Kind hat, verwendet man bei der klassifizierenden Diagnostik in der Regel standardisierte und normierte Verfahren mit psychometrischen Gütekriterien (vgl. Modul AO-SF). Bei der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen kommen zwei Arten von Testverfahren besonders häufig zum Einsatz, Intelligenztests und Schulleistungstests.
Intelligenztests gelten bislang als die besten Einzelindikatoren zur allgemeinen Prognose der Schulleistungsentwicklung, einen Überblick über häufig verwendete Verfahren gibt Tully (2014, S. 282). Meist wird empfohlen, sich an einem kritischen Wert zu orientieren, in der Regel einem IQ von 85, das entspricht einem Platz im unteren Sechstel der Gesamtpopulation. Eine solche Orientierung an einem kritischen Wert ist jedoch sehr problematisch, denn die Definition von Lernbehinderung verlangt eine umfassende und differenzierte Analyse und Beurteilung der Kompetenzen eines Kindes.
Intelligenztests schätzen die allgemeine Lernfähigkeit als „spontane Anpassungsfähigkeit“ zutreffend bei unausgelesenen und großen Stichproben, aber Vorhersagen im Einzelfall sind wenig zuverlässig, besonders bei jungen Kindern, bei schwachen Lernern und bei Kindern mit Migrationshintergrund. Außerdem ist die Richtung des Zusammenhangs zwischen Intelligenz und Schulleistung nicht klar: Intelligenz entwickelt sich nicht unabhängig von den Schulleistungen, sie wird durch Beschulung stark beeinflusst. Intelligenztests zeigen allgemein Entwicklungsretardierung an, so lässt sich folgern, aber sie lassen keine Schlüsse auf geeignete pädagogische Fördermaßnahmen zu.
Das gilt auch für Schulleistungstests, die eingesetzt werden um zu prüfen, ob bei einem Kind umfängliche, langdauernde und schwerwiegende Leistungsrückstände vorliegen. Man könnte informelle und gut an den aktuellen Unterricht angepasste Arbeitsproben durchführen, aber angesichts der großen Folgen von Fehldiagnosen verwendet man bei der Messung der Schulleistungsentwicklung ebenfalls standardisierte und normierte Schulleistungstests.
Schulleistungstest sind Verfahren, die an den typischen Anforderungen des schulischen Curriculums orientiert sind, bei hochgradiger Standardisierung den Ansprüchen von Objektivität, Reliabilität und Validität entsprechen und alters- und schulklassengerechte Normen anbieten. Es gibt einige brauchbare Verfahren zur Diagnose der Leistungen in Sprache, Lesen und Schreiben und Mathematik (vgl. die Übersichten bei Tully, 2014, S. 284-286 und Lauth, Grünke & Brunstein, 2014, S. 560-571). Fast immer stellt man bei der Diagnose einer Lernbehinderung fest, dass neben erheblichen Entwicklungsrückständen im Bereich der kognitiven Leistungen erhebliche Beeinträchtigungen im Bereich der Rechenleistungen und im Bereich des Lesens und des Schreibens vorliegen.
In der klinisch-psychologischen Fachliteratur wird manchmal zwischen Lernstörungen und Lernbehinderungen unterschieden, indem die Intelligenzentwicklung als diskriminatives Merkmal benutzt wird: Wenn bei einem Kind erhebliche schulische Minderleistungen trotz durchschnittlicher Intelligenztestleistung gemessen werden, spricht man von Lernstörungen, wenn nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch die Intelligenztestleitungen schwach sind, von Lernbehinderung.
Ein solcher Sprachgebrauch entspricht nicht den definitorischen Setzungen des Schulgesetzes von NRW, das eine von Kanter bereits 1977 vorgeschlagene und pädagogisch orientierte Unterscheidung zwischen Lernstörungen und Lernbehinderung verwendet (vgl. Lernbehinderung und sonderpädagogischer Förderbedarf). Lernstörungen und Lernbehinderungen stellen in dieser Sicht verschiedene Ausprägungsgrade von Lernschwierigkeiten dar. Die Ausprägungsgrade werden durch die Kriterien Umfang, Schweregrad und Dauer differenziert.
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Lernstörungen sind weniger gravierende Beeinträchtigungen des schulischen Lernens bei mindestens durchschnittlicher Intelligenzentwicklung. Sie treten partiell in nur einem Schulfach und über den Zeitraum von höchstens einem Schuljahr auf (vgl. Heimlich 2009, 20).
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Lernbehinderungen sind gravierende Beeinträchtigungen des schulischen Lernens. Sie treten generell in mehreren Fächern auf, dauern länger als ein Schuljahr und sind häufig, aber nicht immer und nicht notwendiger Weise mit unterdurchschnittlicher Intelligenzentwicklung verknüpft (vgl. Heimlich 2009, 20).
Problematisch ist an der Unterscheidung von Lernstörungen und Lernbehinderung erstens, dass sie nahelegt, dass es sich um zwei zu trennende Gruppen von Lernenden handelt, während in Wirklichkeit die Überlappungen beträchtlich und die Grenzen fließend sind und alle Kinder Anspruch auf Hilfe haben, unabhängig davon, ob sie mit Lernstörungen oder mit Lernbehinderung kämpfen.
Problematisch ist zweitens, dass keine klaren Kriterien für Dauer, Umfang und Schweregrad der Lern- und Leistungsausfälle genannt werden, so dass die Definitionen in der Praxis sehr dehnbar angewendet werden können. Problematisch ist drittens, dass die Definitionen eine Einheitlichkeit nahelegen, die in Wirklichkeit gar nicht gegeben ist.
Gemäß Definition ist Lernbehinderung nicht zu diagnostizieren, wenn Leistungsrückstände als Folge von Sinnesschädigungen auftreten, deshalb wird man die Seh- und Hörleistungen prüfen und bei Auffälligkeiten fachärztliche Untersuchungen beantragen.
Im Rahmen von explorativen Interviews mit Eltern und Lehrkräften und anderen bedeutsamen Bezugspersonen des Kindes wird man die bisherige schulische Entwicklung nachzeichnen und insbesondere versuchen festzustellen, welche Maßnahmen der Hilfe und Unterstützung bislang angewendet wurden und mit welchem Erfolg.
Darüber hinaus wird man diagnostizieren, ob komorbide Störungen wie Aufmerksamkeitsstörungen, Verhaltensstörungen oder psychische Störungen vorliegen, die das schulische Lernen oft erheblich beeinflussen und die bei der Gestaltung hilfreicher schulischer Angebote zu beachten sind. Unterrichtsbeobachtungen und explorative Gespräche mit dem Kind können zeigen, wie sich das Kind aktuell in der Schule verhält, wie es selbst seine Lage sieht, wie es Schule und Unterricht erlebt und welche Ziele es verfolgt.
Entwicklungsorientierte Diagnostik
Entwicklungsorientierte Diagnostik will vorhandene Kompetenzen differenziert erfassen und beschreiben, damit man anschließend geeignete Fördermaßnahmen konzipieren und realisieren kann. Oft erweist es sich als vorteilhaft, wenn Lernschwierigkeiten frühzeitig erkannt werden, um dem einzelnen Kind gezielt Hilfen anbieten zu können, bevor die Lernprobleme generalisieren oder das Kind entmutigt wird.
Folglich ist zu empfehlen, dass bereits vor oder unmittelbar bei Schuleintritt bereits die individuelle Lernausgangslage genau diagnostiziert wird, um gezielte Lernangebote auf dem jeweiligen Entwicklungsniveau machen zu können. Dazu stehen mittlerweile vielfältige förderdiagnostische Methoden zur Verfügung – angefangen bei Beobachtung und Gespräch über Fehleranalysen bis hin zu standardisierten Schulleistungstests bzw. entwicklungsorientierten Tests in anderen Entwicklungsbereichen und einer umfassenden Kind-Umfeld-Analyse (vgl. Heimlich, Lutz & Wilfert de Icaza, 2013; 2014).
Standardisierte normorientierte Verfahren lassen sich für eine entwicklungsorientierte Diagnostik nicht nutzen, weil sie die individuellen Stärken und Schwächen nicht ausreichend differenziert erfassen, weil sie sich inhaltlich nicht oder nur sehr allgemein am schulischen Curriculum orientieren und weil sie an alterstypischen Durchschnittleistungen normiert sind; sie sind folglich nicht curricular valide und sie sind nicht veränderungssensitiv, d.h. sie messen nicht die im Unterricht vermittelten Kompetenzen und sie sind nicht geeignet, Lernfortschritte abzubilden.
In dem Bemühen, pädagogisch brauchbare Ansätze zu entwickeln, hat man in der pädagogischen Diagnostik vor allem auf informelle Verfahren gesetzt: Informelle Verfahren werden von der Lehrperson an die jeweiligen situativen und individuellen Erfordernisse angepasst oder von der Lehrperson eigenständig und höchst spezifisch entwickelt.
Zur Anwendung kommen Kernaufgaben, die zentrale Kompetenzen des Curriculums repräsentieren, verknüpft mit systematischen Verhaltensbeobachtungen oder klinisch-explorativen Interviews, in denen durch systematischen Variation von Aufgaben das Denken der Lernenden erkundet wird und in Fehleranalysen deren Fehlleistungen besprochen und bearbeitet werden, um systematische Denkwege hinter den Fehlern zu erkennen.
Im Rahmen der Leitidee
„Diagnosegeleitet fördern“ wird dargestellt, dass Diagnose und Förderung auf das Engste miteinander verknüpft sind und wie sich
Diagnosemomente und Fördermomente zeigt, dass Lehrkräfte im Unterricht kontinuierlich diagnostisch und fördernd tätig sind und dass sich durch „geschicktes“ Nachfragen oder „kleine“ Impulse während der Arbeitsphasen nicht selten spontane Diagnose- und Fördermomente ergeben.
Diagnosegespräche und Fördergespräche können umfassende Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden liefern und Grundlage für Fördermaßnahmen sein, wenn sie kompetent vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden.
Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben wollen mit Bedacht formuliert sein, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und die Entwicklung dieser zu fördern.
Lern- und Entwicklungsplanung formuliert individuelle Kompetenzerwartungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und erleichtert die Zusammenarbeit der Lehrkraft mit weiteren „Experten“ wie Sonderpädagogen, Eltern, Therapeuten, Ärzten, etc.
Unterrichtsrelevante Tests dienen der Feststellung eines punktuellen Lernstands (Lernstandsdiagnose), die festgestellten Kompetenzen und Defizite können als Ausgangspunkte für die weitere Lernentwicklung genutzt werden.
Organisationsmodelle betonen die besondere Bedeutung eines unterrichtsintegrierten „Diagnose- und Förderkreislaufs“, denn Förderung ohne vorangehende Diagnose erfolgt in der Regel unspezifisch, wohingegen Diagnose ohne darauf aufbauende Förderung häufig wirkungslos bleibt (vgl. Hußmann & Selter, 2013).