Der Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (FS KM) gilt laut der aktuellen Ausbildungsordnung sonderpädagogischer Förderung (AO-SF) in NRW für Kinder und Jugendliche, die „[…] in Folge einer körperlichen Schädigung so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt oder herausgefordert sind, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist und eine besondere Aufgabe darstellt“ (Leyendecker 2009a, S. 198).
Im Sinne des im vorherigen Abschnitt dargelegten aktuellen Verständnisses von Körperbehinderung bezieht der Förderschwerpunkt sowohl die motorischen Behinderungen im engeren Sinne (Körperbehinderungen) als auch die motorischen Behinderungen im weiteren Sinne (motorische Beeinträchtigungen) mit ein. Gemäß AO-SF besteht Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung, „[…] wenn das schulische Lernen dauerhaft und umfänglich beeinträchtigt ist auf Grund erheblicher Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungssystems, Schädigungen von Gehirn, Rückenmark, Muskulatur oder Knochengerüst, Fehlfunktion von Organen oder schwerwiegenden psychischen Belastungen infolge andersartigen Aussehens“ (§ 6 AO-SF).
Aus dieser Definition geht einerseits die hohe Komplexität des Förderschwerpunktes hervor, andererseits wird die damit individuell verbundene Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich medizinisch-therapeutischer, pflegerischer, psychologischer, sozialer und technischer Hilfen deutlich. Neben den Aspekten der Funktionsstörungen bzw. somatischen Schädigungen bezieht die Rechtsverordnung eine die Gesamtpersönlichkeit betreffende Sichtweise mit ein. Dadurch wird eine personenzentrierte Auffassung in ihrem Verständnis körperlicher Behinderung hervorgehoben.
In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zum Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung wurde dieser Aspekt bereits aufgegriffen und in der Zielformulierung präzisiert (KMK 1998, S. 2):
Die eingeschränkten Ausdrucks-, Bewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten haben Auswirkungen auf die Selbstentfaltung und das soziale Umfeld; die Schülerinnen und Schüler sollen jedoch Kompensationsformen und Hilfen zur Bewältigung eines erschwerten Lebens erlernen. Sonderpädagogische Förderung trägt dazu bei, trotz behinderungsbedingter Abhängigkeiten zur größtmöglichen Eigenständigkeit zu finden und die individuellen Entwicklungspotentiale zu nutzen, um Fähigkeiten, Können, Wissen zu erwerben.
Ein weiterer entscheidender Punkt, der von der AO-SF aufgegriffen wird, ist die Annahme der beständigen Einschränkung dieser Bereiche. Der Aspekt des dauerhaften Unterstützungsbedarfs macht deutlich, dass Körperbehinderungen nicht auf den schulischen Kontext beschränkt sind, sondern dass sie eine lebenslange Beeinträchtigung der Person umfassen, so dass diese zeitlebens auf Unterstützung (in unterschiedlicher Intensität) angewiesen ist. In den KMK Empfehlungen wird jedoch ausdrücklich betont, dass der Erwerb einer größtmöglichen Eigenständigkeit und die Nutzung der individuellen Entwicklungspotenziale anzustreben ist, um nicht in ein starres Abhängigkeitsgefüge zu geraten und der betroffenen Person entsprechend ihrer Bedürfnisse eine umfassende und differenzierte Entwicklung zu ermöglichen.
Kinder und Jugendliche mit körperlichen und motorischen Behinderungen weisen i.d.R. Förderbedarf in den relevanten Bereichen der Entwicklung auf. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Entwicklungsbereiche individuell unterschiedlich ausgeprägt sein können, oftmals nicht klar voneinander abzugrenzen sind und stets in einem mehrdimensionalen Bedingungsgefüge betrachtet werden müssen. Für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung lassen sich die in Abbildung 5 dargestellten Förderbereiche festlegen.
Abbildung 5: Förderbereiche im FS KM (VDS, 2010, S. 85)
Der individuelle sonderpädagogische Förderbedarf ergibt sich aus den individuellen Förderschwerpunkten der verschiedenen Förderbereiche. Er wird für jedes Kind in einem individuellen Förderplan berücksichtigt. Als Besonderheit verweist die AO-SF sowohl auf die Beschulung als auch auf die zu erreichenden Abschlüsse: Es gibt es kein eigenes sonderpädagogisches Curriculum im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler können einerseits zielgleich unterrichtet werden, d.h. nach den Richtlinien und Lehrplänen der allgemeinen Schule und dementsprechend auch die Schulabschlüsse der allgemeinen Schulen erreichen. Andererseits kann eine zieldifferente Beschulung stattfinden, wenn zusätzlich ein Unterstützungsbedarf in dem Förderbereich Geistige Entwicklung oder Lernen besteht, denn diese Förderschwerpunkte sehen eigene Bildungsgänge und Schulabschlüsse vor (AO-SF 2015, § 25). Unabhängig von der Art der Beschulung nimmt im Bereich der Körperbehindertenpädagogik der individuelle Förderplan sowie dessen effektive Durchführung und Evaluation eine zentrale Bedeutung für die Qualitätssicherung einer bestmöglichen individuellen Förderung ein.
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Einige Daten zur Beschulung
Die entsprechende sonderpädagogische Förderung kann an allgemeinbildenden Schulen im inklusiven Unterricht stattfinden, die laut AO-SF den empfohlenen Förderort darstellen (AO-SF 2015, § 1), aber auch an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung und an sog. Schulen für Kranke. Unabhängig von den aktuellen Inklusionsbemühungen sind die charakteristischen Merkmale dieser Förderschulen nicht außer Acht zu lassen: Die Konzipierung dieser Schulen ist i.d.R. auf eine exklusive Förderung der Schülerschaft ausgelegt, die mit entsprechenden räumlichen Gegebenheiten, materiellen sowie personellen Ressourcen, einer engen Verzahnung von Therapie und Förderung schlichtweg ein sehr umfassendes Angebot darstellt (Lelgemann 2015, S. 32). Dieses hohe Niveau gilt es, im Rahmen der inklusiven Schulentwicklung auf alle Schulen bestmöglich zu übertragen, um die erforderlichen inhaltlichen, personellen, baulich-räumlichen sowie sächlichen Voraussetzungen sicher zu stellen und somit die Beschulung der Kinder und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt KM im gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen.
Wenn Sie mehr zum Thema Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs im Rahmen der inklusiven Schulentwicklung erfahren möchten, dann lesen Sie in
Teilmodul X. AO-SF weiter.
Im Schuljahr 2014/2015 wiesen laut Schulstatistik des Landes NRW insgesamt 10.753 Schülerinnen und Schüler einen diagnostizierten sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf mit dem Förderbedarf Körperliche und Motorische Entwicklung auf, was vor dem Hintergrund der gesamten Schülerschaft, bei denen ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf diagnostiziert wurde, (N=132.278) einem Förderanteil von 8%[1] entspricht. Damit zählt der Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung zu den personenmäßig kleineren Förderschwerpunkten in Deutschland (vgl. Abbildung 6).
Ein Blick auf die entsprechende Schulverteilung zeigt, dass der Großteil der Schülerschaft überwiegend Förderschulen für körperliche und motorische Entwicklung und vereinzelt Schulen für Kranke besucht. Mit 10 Prozent ist der Anteil derer, die in inklusiven Settings an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, noch relativ gering. Vor dem Hintergrund der jüngsten Inklusionsentwicklungen in Deutschland lässt sich der Schwerpunkt des gemeinsamen Lernens im Bereich der Primarstufe feststellen (knapp drei Viertel aller inklusiv geförderten Schülerinnen und Schüler im FS KM).
Abbildung 6: Sonderpädagogischer Förderbedarf nach Förderschwerpunkten in Deutschland im Schuljahr 2013/2014 (Klemm 2015, S. 32)
[1] Alle quantitativen Angaben beruhen auf eigenen Berechnungen zu den statistischen Angaben des Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2015)