Im schulischen Kontext sind diagnostische Fragen insbesondere bei der Erstellung des sonderpädagogischen Gutachtens zur Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs von zentraler Bedeutung, geht es doch darum, mit möglichst objektiven, reliablen und validen Mitteln zu prüfen, ob bei einem Kind möglicherweise nur vorübergehende Entwicklungsverzögerungen bestehen oder ob ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf körperliche und motorische Entwicklung vorliegt, d.h. ob das „[…] schulische Lernen dauerhaft und umfänglich beeinträchtigt ist auf Grund erheblicher Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungs­systems, Schädigungen von Gehirn, Rückenmark, Muskulatur oder Knochengerüst, Fehlfunktion von Organen oder schwerwiegenden psychischen Belastungen infolge andersartigen Aussehens“ (§ 6 AO-SF).

Im Rahmen einer umfassenden Förderdiagnostik umfasst die Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs die Erhebung des individuellen Förderbedarfs, die Erstellung und Begründung spezifischer Förderziele und die Entscheidung über den geeigneten schulischen Förderort. Richtungsweisende Empfehlungen für den Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung existieren auf Bundesebene bereits seit mehr als 15 Jahren (vgl. Kulturministerkonferenz 1998 und das nächste Informationsfenster). Die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung sowie die praktische Umsetzung liegt jedoch bei den einzelnen Bundesländern.

Für NRW werden die entsprechenden schulrechtlichen Bestimmungen in der „Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF)“ aufgeführt. Diese regelt zwar organisatorische und verwaltungsrechtliche Fragen, macht jedoch keine Aussagen über den Verlauf und die Inhalte des diagnostischen Prozesses. Auch in der einschlägigen Fachliteratur lassen sich keine theoretisch begründeten und systematischen Anleitungen zur gutachterlichen Feststellung im Förderschwerpunkt KME finden, denn die Quellen beziehen sich i.d.R. auf eher allgemeine Qualitätsstandards der sonderpädagogischen Gutachtenerstellung, die den Förderschwerpunkt übergreifende Bedeutung haben. Folglich lastet große Verantwortung auf den einzelnen Schulen und Lehrkräften.
 
 

Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs körperliche und motorische Entwicklung - Empfehlungen der KMK (1998)

Die Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (KMK 1998) gelten als erste richtungsweisende Orientierung, sind jedoch recht allgemein gehalten. Sie sind Empfehlungen und folglich weder für die Bundesländer noch für Schulamtsbezirke oder Einzelschulen verbindlich.

Das Verfahren zur Erhebung des sonderpädagogischen Förderbedarfs umfasst gemäß KMK (1998, S. 7-8):

  • das Auswerten der medizinischen Anamnese und Diagnose,
  • das Darstellen des Entwicklungsverlaufs,
  • das Erfassen des Entwicklungsstandes in Bezug auf Motorik, Sensorik, Kognition, Sprache und Kommunikation, Emotionalität und Sozialkompetenz sowie Lern-und Leistungsverhalten,
  • die Kind-Umfeld-Analyse, einschließlich Analyse des schulischen Umfeldes und dessen Veränderungsmöglichkeiten,
  • die Analyse des räumlichen Bedarfs und der technisch-materiellen Ausstattung,
  • das Prüfen des physio-, ergo- und sprachtherapeutischen und sozialpädagogischen Bedarfs sowie des Bedarfs im Bereich der allgemeinen Pflege und der Behandlungspflege,
  • Vorschläge zur Bewältigung des Schulweges.
Sofern sie für die schulische Förderung bedeutsam sind, werden Informationen zu folgenden Bereichen erhoben:
  • Bewegungsfähigkeit beim Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen,
  • Bewegungsfähigkeit beim Greifen, Halten, Loslassen,
  • Gelenk- und Muskelspannung, Bewegungswahrnehmung, Bewegungsplanung und Bewegungskoordination,
  • Art und Grad der selbstständigen Fortbewegungsmöglichkeit,
  • Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung sowie sensorische Verknüpfung,
  • Tiefen- und Oberflächensensibilität, Orientierungsfähigkeit hinsichtlich des eigenen Körpers, der Raumvorstellung und zeitlicher Strukturen,
  • Besonderheiten der körperlichen Organe, des Stoffwechsels, der Haut und der Blutsysteme,
  • Erkrankungen und deren Folgeschäden,
  • Seh-, Hör- und Sprachvermögen,
  • Hilfsmittelversorgung und Medikation,
  • soziale Einbindung und Interaktion,
  • emotionale Grundbefindlichkeit,
  • Aneignungsweisen und Handlungskompetenzen,
  • Selbstständigkeit bei Verrichtungen des Alltags wie Körperpflege, Nahrungsaufnahme und -ausscheidung, An- und Auskleiden,
  • Entwicklungsverlauf und aktueller schulischer Leistungsstand,
  • schulisches Umfeld und Möglichkeiten seiner Veränderung,
  • berufliche Perspektiven.
 

Wenn Sie vertiefende Informationen zum Thema Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs im Rahmen der inklusiven Schulentwicklung erfahren möchten, dann lesen Sie in Teilmodul X. AO-SF weiter.
 
Im Förderschwerpunkt KME erfolgt die Feststellung des individuellen Förderbedarfs im Rahmen eines komplexen und interdisziplinär angelegten Handlungsprozesses. Die förderdiagnostische Überprüfung bezieht sich dabei im Sinne einer Kind-Umfeld-Analyse auf die elementaren Entwicklungsbereiche der Motorik, Wahrnehmung, Emotionalität, Kognition, Kommunikation und der sozialen Kompetenzen. Dabei wird das Individuum als „ganzheitlich Handelnder und Gestalter der eigenen Entwicklung“ (KMK 1998, S. 8) angesehen.

Der Fokus wird nicht primär auf die Beeinträchtigung gerichtet, sondern auch auf die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen eines Kindes. Interdisziplinär ist dieser Prozess insofern, als dass alle Personen aktiv mitwirken, die an der Förderung der betroffenen Schülerin bzw. des betroffenen Schülers beteiligt sind. Das schließt Lehrkräfte, Therapeuten, Ärzte, pflegerische und medizinische Fachkräfte, aber auch die Eltern und Erziehungsberechtigten mit ein.

Denn bedeutsam für den vorliegenden Förderschwerpunkt sind zum einen das Ausmaß und die Schwere der Beeinträchtigung, wie sie in der medizinischen Diagnose zum Ausdruck kommen. Zum anderen nimmt vor allem bei Lernenden mit schweren Beeinträchtigungen die enge Zusammenarbeit mit den Eltern eine elementare Bedeutung ein. Insbesondere bei Kindern mit eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten oder schwersten Beeinträchtigungen sind die Eltern oftmals Experten, die wichtige Erfahrungswerte sowohl für den diagnostischen Prozess als auch für die Erstellung konkreter Förderkonzepte beitragen können.

Die Erkenntnisse und Befunde, die im Rahmen der Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs gewonnen werden, gehen in das förderpädagogische Gutachten ein. Dieses stellt fest, ob ein sonderpädagogischer Förderbereich KME vorliegt und macht Vorschläge für einen geeigneten Förderort. Es stellt folglich die wesentliche Grundlage für eine explizite sonderpädagogische Förderung im Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung dar.

Mit der Erstellung des Gutachtens werden zwei zentrale Absichten verfolgt: Auf der einen Seite legitimiert ein Fördergutachten die Zuweisung sonderpädagogischer Ressourcen. Auf der anderen Seite bildet es die elementare Voraussetzung bzw. Grundlage für das Erstellen konkreter individueller Förderkonzepte. Beide Zielsetzungen werden vor dem Hintergrund vielfältiger Alltagsbeobachtungen sowie systematisch erhobener Daten verfolgt. Ausgangspunkt bilden somit Daten und Untersuchungsergebnisse einzelner Entwicklungsfunktionen, die mithilfe der in Abbildung 15 dargestellten Verfahrensweisen erhoben werden (Bergeest et. al. 2015, S. 238).

Der weitreichende Stellenwert, den ein Fördergutachten für Schülerinnen und Schüler einnehmen kann, ist nicht zu unterschätzen. Sowohl hinsichtlich rehabilitativer Maßnahmen als auch in Bezug auf die Entscheidung über künftige Schullaufbahnen stellt das Fördergutachten und ein darin attestierter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf die Grundlage für Entscheidungen über den weiteren (schulischen) Lebensweg eines Individuums dar (Bergeest et. al. 2015, S. 239). Folglich lässt sich die Relevanz einer regelmäßigen Fortführung, Aktualisierung und Dokumentation hervorheben. Diese steht in engem Zusammenhang mit der sich daraus ergebenden verantwortungstragenden Funktion von Lehrkräften in dem gesamten diagnostischen Handlungsprozess, wenn es darum geht, kontinuierlich die bestmöglichen Lern- und Entwicklungsbedingungen für die Schülerinnen und Schüler zu erreichen.