Hören Sie gut? Oder sind Sie sich nicht sicher?
Auf der Webseite der Firma MED-EL Elektromedizinische Geräte Deutschland GmbH, einem Hersteller von Hörimplantatsystemen, können Sie sich online einem Hörtest unterziehen, der nur wenige Minuten dauert. Danach wissen Sie etwas mehr über Ihr Hörvermögen und Sie können gut nachvollziehen, wie anstrengend das Hören unter schwierigen Bedingungen ist.
Starten Sie den Hörtest „Gespräche in Umgebungslärm“ unter
https://www.medel.com/de/about-hearing/hearing-test
Laura
Laura hat von Geburt an eine hochgradige Hörschädigung. Sie trug zunächst beiderseits Hörgeräte. Auf Grund mehrerer Hörstürze verschlechterte sich ihr Gehör, so dass sie in ihrem 7. Lebensjahr einseitig mit einem CI (Cochlea Implantat) versorgt wurde. Da sie von dem Hörgerät, dass sie anfänglich auf der nicht mit einem CI versorgten Seite trug, nicht profitierte, nutzt sie dieses nun nicht mehr. Sie hört seither ausschließlich mit einem CI.
Laura besuchte sowohl das Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation als auch die allgemeine Schule, so dass sie über Erfahrungen mit beiden Schularten verfügt. Sie wurde zunächst in die Grundschule eines Förderzentrums eingeschult, danach wechselte sie an eine Realschule für Hörgeschädigte. Nach erfolgreichem Abschluss besuchte sie ein allgemeines Gymnasium, das sich auf Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung spezialisiert hatte. Ihre Erfahrungen mit dem Mathematikunterricht beschreibt sie folgendermaßen:
In meiner Schulzeit waren Mathematik und ich dicke Freunde, und so wurde Mathematik mein Lieblingsfach. An Mathematik war das Besondere, dass die Sprache nicht die größte Rolle gespielt hat. Meine Sprachkompetenz in Deutsch war nicht besonders gut, sodass ich lieber Mathematik- als Deutschunterricht hatte. Ich konnte besser mit Zahlen, Formeln umgehen als mit Texten und Büchern...
In meiner Grund- und Realschulzeit am Förderzentrum hatte ich gar keine Schwierigkeiten, da die Lehrkräfte eine sehr klare, deutliche, verlangsamte Lautsprachartikulation und ständigen Blickkontakt zu uns hatten, wodurch das Absehbild gesichert war [Absehen ist die Beobachtung des Gesichts einer bzw. eines Sprechenden, insbesondere der Mundbewegungen und der Mimik; das dabei erkennbare Bild wird als Absehbild bezeichnet]. Alle wichtigen mathematischen Fachbegriffe sowie mathematischen Formeln wurden an der Tafel mitgeschrieben, so wurde kein wichtiger neuer Begriff aufgrund der Hörbehinderung missverstanden oder verpasst. Die Aufgaben konnte ich selbstständig ohne Hilfe durch andere bearbeiten. Wir hatten ein Merkheft für die wichtigen Regeln und Formeln. In dieses trugen wir während der Einführung eines neuen Themas im Mathematikunterricht das Wichtige ein. Dieses konnten wir bei Unsicherheiten zur Hand nehmen und nachschauen. Insgesamt hatten wir nur für den Mathematikunterricht drei Hefte (Schul-, Hausaufgaben- und Merkheft).
Erst nach der Realschulzeit in der Inklusion am Gymnasium wurde der Mathematikunterricht für mich schwieriger, ich blieb mit meiner Note nicht mehr im Einserbereich. Die Lautsprache des Lehrers war sehr schwierig zu verstehen, da er sehr stark Dialekt gesprochen hat. Man musste immer wieder nachfragen und ihn bitten, hochdeutsch zu sprechen. Auch das Absehbild war nicht immer sichtbar, da er immer wieder zur Tafel gesprochen hat. Er hatte kaum Erfahrungen mit hörbehinderten Schülern und Schülerinnen, aber hat sich sehr viel Mühe gegeben. Die Themen in der Mathematik wurden in den oberen Klassen immer abstrakter. Erschwerend kam hinzu, dass ich aufgrund der unverständlichen Lautsprache des Lehrers die Aufgaben nicht mehr ganz verstehen konnte und sie daher nur noch ungefähr erledigen konnte. Es wurde kein Merkheft mitgeführt. Es gab nur noch ein Schulheft, in dem neue Unterrichtseinträge und Aufgaben aus dem Unterricht drinstanden, und das Hausaufgabenheft. In diesem standen die Aufgaben, die Zuhause erledigt wurden.
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nur das Mitführen von Merkheften mit wichtigen Regeln, mathematischen Fachbegriffen und Formeln empfehlen. Ansonsten die neuen Begriffe immer wieder sprechen, gebärden oder an die Tafel schreiben, damit diese richtig in den Köpfen von hörbehinderten Schülern und Schülerinnen ankommen.
Eigenaktivität
Was lässt sich aus dieser Falldarstellung ableiten? Welche Unterrichtsbedingungen wirkten unterstützend, erleichterten das Lernen? Welche Unterrichtsbedingungen erschwerten der Schülerin mit Hörschädigung das Lernen?
Greta
Greta kam als gut hörendes Kind auf die Welt. Im Alter von knapp 6 Monaten erkrankte sie an einer Pneumokokken-Meningitis [bakterielle Infektion der Hirnhäute], in deren Folge sie innerhalb kurzer Zeit ertaubte und ihre Cochlea verknöcherte. Die Mutter hatte die Ertaubung am veränderten Verhalten ihrer Tochter noch während des Abklingens der Meningitis im Krankenhaus wahrgenommen. Entsprechende Untersuchungen unmittelbar im Anschluss bestätigten die Vermutung der Mutter. Greta wurde mit Hörgeräten versorgt, die allerdings kein verifizierbares Hörergebnis brachten. Die Möglichkeit der CI (Cochlea Implantat)-Versorgung bestand für ein Kind in diesem Alter noch nicht. Im Alter von 2 Jahren und 4 Monaten wurde sie dann, als eines der ersten Kleinkinder, am „besseren“ Ohr mit einem CI versorgt.
Da die Lehrerin der zuständigen allgemeinen Grundschule Bedenken hatte – sie befürchtete, der Schülerin nicht gerecht werden zu können und eine Überforderung ihrerseits – wurde Greta in eine Montessori-Schule eingeschult. Nach der Grundschulzeit wechselte sie auf eine Realschule und nach dem Bestehen der Mittleren Reife auf ein Gymnasium. Ihre gesamte Schullaufbahn verlief folglich inklusiv, heute ist sie Studentin.
Ihre Begegnungen mit Zahlen und dem Mathematikunterricht beschreibt Greta wie folgt:
Ich liebte z.B. meine Jahres-Kalender, in denen von meiner Mutter jeden Tag eine Episode „zeichnerisch“ und zunehmend auch mit Sprechblasen und knappem Erzähltext festgehalten wurde. Diese Kalender dienten als Erzählgrundlage, und da ich offenbar eher etwas zahlenaffin bin, lernte ich über die 7 Tage in der Woche und die 30 Tage im Monat relativ schnell Zahlen zu erkennen und zu lesen. Dazu kam, dass meine Schwester zur Einschulung den obligatorischen Setzkasten bekam, der nach wenigen Tagen von mir konfisziert wurde. Von da an setzte ich alles Mögliche an Worten, vorzugsweise Zahlworten, aber gerne auch kleine Rechnungen in meinem Setzkasten. … Viel genutzt wurden auch die LÜK-Kästen in diversen sprachlich und mathematisch ausgerichteten Varianten.
In Bezug auf Mathematik hatte ich bis zum Ende der Realschulzeit so gut wie keine Probleme. Ich verstand die Aufgaben, die mir gestellt wurden, recht schnell, was möglicherweise an meiner – gemessen an meinen auditiven Voraussetzungen – recht guten Sprachkompetenz lag. Ich besuchte Regelschulklassen, in denen mir keinerlei Sonderbehandlung zuteilwurde. Wenn ich Verständnisschwierigkeiten hatte, konnte ich mich jederzeit zunächst an meine Eltern, später auch oft an meine Mathematik-Lehrkraft wenden und ich erhielt die nötigen Erklärungen. Auch bekam ich bei Bedarf gezielt Förderstunden, so dass ich meine Mathematikkompetenzen noch weiter verbessern und vertiefen konnte. Die Abschlussprüfung der Mittleren Reife in Mathematik schloss ich mit der Note 1 ab.
Die ersten größeren Schwierigkeiten traten erst in der Sekundarstufe 2 auf. Nach dem Übertritt von der Realschule auf das Gymnasium war ich in Sachen Sprachkompetenz bzw. sprachlichem Anspruch von Texten plötzlich mit einem erheblich gesteigerten Sprachniveau konfrontiert. Im Fach Mathematik bereitete mir das vor allem bei den Sachaufgaben in den Bereichen der Analysis und der Stochastik Probleme. In Geometrie hatte ich nach wie vor keine Schwierigkeiten. In Analysis allerdings verwirrten mich die Texte regelmäßig. In Stochastik stellten mich die Sachaufgaben vor große Herausforderungen, da sie mir häufig mehrdeutig erschienen und mir daher regelmäßig Probleme beim Verstehen des Sinngehalts bereiteten.
Das Hauptproblem lag darin, dass Integration resp. Inklusion an den in der Schule vorhandenen Möglichkeiten bzw. den Gegebenheiten ihre Schranken fand. In meinem Fall konnten die technischen Angebote meine Hördefizite nicht auffangen. Damit waren meine Grenzen vorgezeichnet. Bei Eintritt in das Kurssystem war für mich die Wahl von Kursen begrenzt. Die Teilnahme in kleinen Gruppen war nicht mehr möglich.
Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Lehrkraft mehr Zeit für Erklärungen im Unterricht genommen und auch mehr Partnerarbeiten durchgeführt hätte, bei denen die Schüler gleiche Aufgabenstellungen in Partnerarbeit zu bewältigen haben. Falls während der Bearbeitung Probleme beim Verständnis von Textinhalten auftreten, könnte entweder der Lernpartner oder die Lehrkraft behilflich sein, die Aufgabenstellung zu verstehen. Im Bereich der Sachaufgaben hätte mir wahrscheinlich eine Vereinfachung der Texte sehr geholfen.
Eigenaktivität
Was lässt sich aus dieser Falldarstellung ableiten? Welche Unterrichtsbedingungen wirkten unterstützend, erleichterten das Lernen? Welche Unterrichtsbedingungen erschwerten der Schülerin mit Hörschädigung das Lernen?
Diese Seite wurde von Prof. Dr. Annette Leonhardt erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.