Als Sprachentwicklungsstörungen bezeichnet man normabweichende Einschränkungen in der Fähigkeit zum regelhaften Gebrauch der Muttersprache, die sich in Folge einer nicht altersgemäße Sprachentwicklung bei einem Kind zeigen. Dabei unterscheidet man

  • Primäre Sprachentwicklungsstörungen, meist als Spezifische oder Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen bezeichnet, die sich nur auf die sprachlichen Fähigkeiten beziehen, während alle anderen Fähigkeiten altersgemäß entwickelt sind.
  • Sekundäre Sprachentwicklungsstörungen, die in Verbindung mit weiteren Entwicklungsstörungen auftreten, z.B. im Rahmen von genetischen Syndromen oder neurologischen Erkrankungen oder bei intellektuellen Beeinträchtigungen.

Die vielfältigen Sprachentwicklungsstörungen werden differenziert beschrieben, je nachdem, welche sprachlichen Mittel auf welcher Ebene der Sprachverarbeitung auffällig sind (Mußmann, 2012, S. 4).

  • Phonetik und Phonologie  beziehen sich auf die Lautbildung bzw. die Lautunterscheidung und Lautverwendung.
  • Semantik und Lexikon beziehen sich auf Wortbedeutungen und den Wortschatz.
  • Morphologie und Syntax  beziehen sich auf das grammatische Regelsystem für die Wortform- und Satzbildung.

Im nachfolgenden Text finden Sie eine grundlegende Übersicht zu einigen sprachlichen Prozessen auf verschiedenen Ebenen der Sprachverarbeitung, konkretisiert an Beispielen, die zeigen, wie sich diese Schwierigkeiten im Rahmen der Spontansprache von betroffenen Kindern und Jugendlichen äußern können.

Redeflussstörungen

...betreffen die Taktung und das Tempo gesprochener Äußerungen.

Stottern

Unterbrechung des Redeflusses durch Wiederholungen von Lauten, Silben oder Wörtern und Blockaden und Muskelverletzungen (Mußmann, 2012, S. 5).
Wenn Sie mehr über die Symptomatik zum Stottern aus logopädischer Sicht erfahren möchten, dann schauen Sie dieses Video.

Poltern

Zu schnelles und überhastetes Sprechtempo mit Wiederholungen, Auslassungen oder Vertauschungen von Silben, Wortteilen und Wörtern (Mußmann, 2012, S. 5).

Phonetisch-phonologische Störungen

... betreffen die Lautproduktion und/oder die Lautunterscheidung und Lautverwendung. Sie werden oft auch als Artikulations- bzw. Aussprachestörungen oder als Dyslalien bezeichnet (vgl. Suchodoletz, 2013, S. 13-15).

Eine phonetische Störung wie liegt vor, wenn ein Kind einen Laut weder isoliert noch in Silben, Wörtern oder Sätzen korrekt produzieren kann. Es handelt sich also um eine Lautbildungsstörung oder Sprechstörung, wie z.B. beim Sigmatismus, der Fehlbildung von [s]-Lauten, auch bekannt als Lispeln (Reber & Schönauer-Schneider, 2018, S. 62).

Eine phonologische Störung liegt vor, wenn ein Kind einen bestimmten Laut zwar isoliert korrekt bilden kann, diesen aber in Wörtern auslässt, falsch gebraucht oder durch einen anderen Laut ersetzt. Es handelt sich also um eine Lautverwendungsstörung, wenn ein Kind  z.B. die Laute [t] und [k] isoliert richtig artikuliert, aber die Wörter "Tasse" und "Kasse" als "Tasse" artikuliert.

Der Film über Oskar, ein Kind mit erheblichen Sprachentwicklungsproblemen, dokumentiert vor allem in den ersten zwei Minuten phonetisch-phonologische Störungen

Semantisch-lexikalische Störungen

...liegen vor, wenn sprachliche Formen gebildet werden, die in Wortbedeutung (Semantik) und Wortform (lexikalischer Aspekt) der beabsichtigten Äußerung inhaltlich nur unzureichend entsprechen (vgl. Glück, 2009). Die folgende Übersicht verdeutlicht mögliche Schwierigkeiten in der Sprachproduktion von betroffenen Kindern und Jugendlichen.
Tabelle mit zwei Spalten und 5 Zeilen. Linke Spalte: Semantisch-lexikalische-Störungen, rechte Spalte: Symptomatik. Zeile 1: „Fehlbenennungen bzw. Wortersetzungen“: „Verwendung semantisch verwandter Wörter (z.B. Buch statt Heft); häufige Verwendung von Oberbegriffen (z.B. Tier statt Fuchs); Wortneuschöpfungen (z.B. Stiftschneider statt Anspitzer)“. Zeile 2: „Stagnation des Wortartenerwerbs“: „Hoher Anteil von Nomen, wenig Verben und Adjektive; Fehlende Funktionswörter (z.B. „Ich mache Aufgaben.“, „Ich kletter Baum.“). Zeile 3: „Gebrauch unspezifischer Wörter“: „Floskelartige Passepartout-Wörter (z.B. Dingsda); Paraphrasieren (z.B. „Wo man viele Zahlen hat“ statt Matheunterricht)“. Zeile 4: „Unvollständige Wortsemantik“: „Fehlende Verfügbarkeit semantischer Relationen (z.B. nicht Plus rechnen statt Minus rechnen)“. Zeile 5: „Wortfindungs- oder Wortzugriffsprobleme“: „Verlangsamter Wortabruf (z.B. Pausen in Äußerungen); hoher Anteil an Füllwörtern (z.B. ehm, ne); Einsatz nonverbaler Zeichen z.B. mittels häufigem Zeigen.“
Abbildung 1: Symptomatik semantisch-lexikalischer-Störungen (in Anlehnung an Kannengieser, 2009, S. 231)

Syntaktisch-morphologische Störungen

... betreffen die grammatisch regelkonforme Bildung von Wortformen (Morphologie) und Sätzen (Syntax), die nicht altersgemäß beherrscht werden. Sie werden im klinischen Bereich auch als grammatische Störungen oder als Dysgrammatismus bezeichnet (Motsch, 2010, S. 49-50). Der fiktive Satz von Motsch (2010, S. 49)  „Timo in der Schule gehen, wegen wollen gute Notens“ verdeutlicht die Schwierigkeiten der Lernenden, die in der Tabelle differenzierter dargestellt werden.
Tabelle mit zwei Spalten. Linke Spalte: Morphologie und Syntax, rechte Spalte: grammatische Störungen. „Morphologie“: „Subjekt-Verb-Kongruenz (Timo gehen): Es wird nicht erkannt, dass das Subjekt das Verb kontrolliert und somit passende grammatische Markierungen am Verb erforderlich sind (Person, Numerus)“; „Genusmarkierung (der Schule): Unkorrekte Markierung des Geschlechts“; „Kasus (in der Schule): Gefordert ist die Markierung des Akkusativs am Artikel, stattdessen wird die Grundform des Nominativs verwendet“; Plural (Notens): Unkorrekte Markierung des Numerus.“ „Syntax“: „Verbstellung im Hauptsatz: Endstellung statt Zweistellung“; „Verbstellung im Nebensatz: Verbendstellung des finiten Verbteils nicht beachtet“; Auslassungen: Hier Subjekt im Nebensatz“.

Kommunikationsstörungen

… liegen dann vor, wenn nach vollzogenem Spracherwerb mit weitgehend gelungener Sprech- und Sprachentwicklung der Gebrauch der Lautsprache gehemmt ist.

Sprechangst ist eine relativ häufig auftretende allgemeine Sprechhemmung geringeren Grades.

Mutismus ist eine sehr selten auftretende Verweigerung der sprachlichen Kommunikation, die sich sehr häufig als selektiver Mutismus darstellt, das ist das Schweigen gegenüber bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen (Lüdtke & Stitzinger, 2017, S. 58).

Der Film stellt Ihnen Mieke vor, ein Mädchen im Alter von 8 Jahren, das zwar daheim mit Familienmitgliedern und mit ausgesuchten Freundinnen aktiv kommuniziert, in Schule und Unterricht jedoch weitgehend schweigsam ist.

Die bislang beschriebenen Beeinträchtigungen im Erwerb sprachlicher Fähigkeiten wirken sich auf die darauf aufbauendenden sprach- und kommunikationsgestaltenden Kompetenzen aus, insbesondere auf  die Prosodie und die Pragmatik  (vgl. Mußmann, 2012).

Prosodie betrifft die kommunikativ adäquate Betonung, Rhythmisierung und Gewichtung lautsprachlicher Einheiten beim Sprechen.

Pragmatik umfasst die Fähigkeit, sprachliche Äußerungen an die jeweilige Kommunikationssituation anzupassen, indem der  jeweilige Kontext berücksichtigt und die sozialen Normen zur Deutung und zum Gebrauch von Sprache beachtet werden (vgl. Achhammer, 2015, S. 5).

Pragmatisch-kommunikative Störungen

... zeigen sich in Schwierigkeiten bei der verbalen Interaktion. Sie werden ab dem beginnenden Grundschulalter zunehmend wichtig, da mit Eintritt in die Schule die kommunikativen Anforderungen in der sozialen Interaktion deutlich zunehmen. Erwartet werden das Beherrschen von Gesprächskonventionen, der adäquate Einsatz von Anrede- und Höflichkeitsformeln, die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse verschiedener Kommunikationspartner und die Entwicklung einer empathischen Gesprächsführung (vgl. Achhammer & Spreer, 2015, S. 25).

Bei wachsender Diskrepanz zwischen den individuellen sprachlichen Möglichkeiten eines Kindes und den kommunikativen Anforderungen im Unterricht (vgl. Achhammer, 2015, S. 6) droht den betroffenen Kindern ausbleibender Lernerfolg und mangelnde Teilhabe am Unterricht, wobei die sprachlichen Schwierigkeiten vielfältig sein können.
3 Spalten mit Überschriften, darunter Rechtecke. 1. „Kognitiver Kontext“, darunter „nicht erkennen von Zusammenhängen (mangelnde Inferenzbildung)“; „besondere eigene Themen“; „feststehende Phrasen in Äußerungen“; „mangelnde Deutung von Emotionen“. 2. „Sprachkontext“, darunter „sprunghafte Themenwechsel“; „Probleme bei Sprecherwechsel“; „nicht adäquater Rededrang“; „geringe nonverbale Kommunikation“. 3. „Sozialkontext“, darunter „Probleme beim Verstehen von Witz und Ironie“; „negatives Selbstwertgefühl“; „gestörte soziale Interaktion“; „Verhaltensauffälligkeiten“. Unter Spalte 2 ein Rechteck: „…“
Abbildung 2: Übersicht Auffälligkeiten Pragmatisch-kommunikative Störungen (in Anlehnung an Achhammer & Spreer, 2015)

Insgesamt sind etwa sechs bis acht Prozent aller Kinder eines Altersjahrgangs von einer spezifischen Störung des Spracherwerbs betroffen, die überwiegend im Alter von drei bis zehn Jahren auftritt (vgl. Grohnfeldt, 2013, S. 53).  Allen Betroffenen ist gemeinsam, dass sie im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters über weniger formal-sprachliche Einheiten bei der Produktion und Rezeption von Sprache verfügen und nicht genau dieselben Sprachregeln anwenden (vgl. Ritterfeld, 2004, S. 71).Weil Sprachentwicklungsstörungen relativ häufig und gerade im Primarschulalter vorkommen, benötigen die betroffenen Kinder an Grundschulen Verständnis für ihre schwierige Lage und einen Unterricht, der die Entstehung und Auswirkung von Sprachentwicklungsstörungen berücksichtigt.