Liegt bei einer Schülerin oder einem Schüler sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf vor? Die Antwort auf diese Frage ist in einem schulrechtlich geregelten gutachterlichen Verfahren zu ermitteln, dessen Ausgang die schulische Zukunft des betroffenen Kindes erheblich beeinflussen kann. Es geht nämlich einerseits um die Zuweisung und Legitimation besonderer pädagogischer Ressourcen, andererseits in den Förderschwerpunkten Geistige Entwicklung und Lernen um die Zuweisung eines Bildungsgangs mit zieldifferenter Förderung und – damit einhergehend – mit reduzierten Leistungserwartungen und einem alternativen Schulabschluss.
Die Zuweisung eines solchen Bildungsgangs darf nicht leichtfertig oder vorschnell erfolgen. Es gilt Fehldiagnosen zu vermeiden, die dazu führen können, dass von Lernenden zu niedrige Leistungen erwartet werden, wenn z.B. bereichsspezifische Leistungsausfälle (wie bei Lese- und/oder Rechtschreibschwäche oder bei Rechenschwäche zu beobachten) als Lernbehinderung missdeutet werden (Grünke & Grosche, 2014) oder wenn eine vorübergehende Entwicklungskrise oder eine Phase mangelnder schulischer Lernmotivation als Symptome einer Geistigen Behinderung missverstanden werden (Castello, Grünke & Beelmann, 2014).
Um Fehldiagnosen zu vermeiden, werden vor allem zwei Methoden der Qualitätssicherung empfohlen:
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Durch ein dialogisches Verfahren der Begutachtung soll verhindert werden, dass nur eine einzelne Person über die zukünftigen schulischen Bedingungen eines Kindes entscheidet. Mindestens zwei professionell kompetente Personen sollen die diagnostischen Daten erheben, dokumentieren und interpretieren und zu einem gemeinsam verantworteten Urteil gelangen. In der Regel sollen dies eine allgemeine Lehrkraft sein, die das Kind gut kennt, und eine Lehrkraft für sonderpädagogische Unterstützung.
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Durch die Verwendung standardisierter und normierter Tests soll sichergestellt werden, dass zuverlässige und inhaltlich valide Daten objektiv erhoben und interpretiert werden. Auf diese Weise können subjektive Einschätzungen durch Einzelpersonen weitgehend vermieden und durch objektive, für alle gleiche Vorgaben ersetzt werden.
In den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung werden oft Intelligenztests eingesetzt.
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Grünke und Grosche (2014) empfehlen, im Schwerpunkt Lernen nicht nur die Schulleistungen, sondern auch die Allgemeinintelligenz mittels standardisierter Tests zu messen. Die für Nordrhein-Westfalen verbindliche Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung (AO-SF, 2016) schreibt in § 4 (2) den Einsatz von Intelligenztests jedoch nicht vor, denn für die Diagnose einer Lernbehinderung ist allein die Feststellung umfänglicher, schwerwiegender und langdauernder Lern- und Leistungsausfälle maßgeblich.
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Die AO-SF formuliert in § 5 als zentrales Kriterium für das Vorliegen einer Geistigen Behinderung „eine dauerhafte und hochgradige Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit“. Eine verzögerte geistige Entwicklung sollte in der Regel mithilfe eines oder mehrerer Intelligenztests diagnostiziert werden. Bei schweren und komplexen intellektuellen Beeinträchtigungen sind Tests jedoch oft nicht durchführbar. Langfeldt und Prücher (2001) haben bei der Analyse von Gutachten nur in gut einem Fünftel der Fälle IQ-Werte finden können (vgl. auch Kuhl, Wittich & Schulze, 2022).
Im Folgenden gehen wir der Frage nach, was Intelligenz eigentlich ist, wie sie gemessen wird und wie die Ergebnisse von Intelligenztests pädagogisch interpretiert werden können. Abschließend werden wir betrachten, wie versucht wird, mittels Intelligenztests zwischen Lernbehinderung und Lernstörungen zu unterscheiden und Lernbehinderung von Geistiger Behinderung abgrenzen zu können.
Intelligenztests dürfen nur von entsprechend ausgebildeten und im schulischen Bereich meist nur von eigens beauftragten Personen durchgeführt werden, in der Regel von Psychologinnen und Psychologen oder von Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung. Auf den Seiten dieses Projekts finden Sie an anderer Stelle weitere Informationen zur Diagnostik in den Schwerpunkten Geistige Entwicklung und Lernen.
Die Ausführungen auf dieser Webseite beziehen sich auf die Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung (AO-SF) und das Bundesland NRW, in anderen Bundesländern werden die schulamtlichen Regelungen abweichen und in der schulischen Praxis durchaus auch regional variieren. Die Kultusministerkonferenz hat zwar auf Bundesebene Empfehlungen verabschiedet (KMK, 2019, 2021), aber deren konkrete Ausgestaltung und praktische Umsetzung ist in die Verantwortung der Bundesländer gegeben. Informieren Sie sich gegebenenfalls über die in Ihrem Bundesland und in Ihrer Region gültigen Regelungen.
Was ist Intelligenz?
Zu dieser Frage gibt es viele Antworten. 52 führende Forscherinnen und Forscher haben sich auf diese Definition geeinigt (Gottfredson et al., 1997, zitiert nach Rost, 2017, S. 23):
Intelligenz ist ein sehr allgemeines geistiges Potenzial, das u. a. die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zur Problemlösung, zum abstrakten Denken, zum Verständnis komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung umfasst. Es ist nicht reines Bücherwissen, keine enge akademische Spezialbegabung, keine Testerfahrung. Vielmehr reflektiert Intelligenz ein breites und tieferes Vermögen, unsere Umwelt zu verstehen, zu ›kapieren, Sinn in Dingen zu erkennen‹ oder ›herauszubekommen, was zu tun ist‹.
Intelligenztests sollen die allgemeine Lernfähigkeit eines Menschen als die Fähigkeit erfassen, sich spontan auf neue Herausforderungen einzustellen (Tröster, 2019, S. 182-184). Sie sollen nicht die Schulleistungen messen, sondern kognitive Basisfähigkeiten wie das sprachliche Denken, das numerische Denken, das räumliche Vorstellungsvermögen, die visuelle und die auditive Wahrnehmung, die Merkfähigkeit oder die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit bis hin zu Formen des abstrakten schlussfolgernden Denkens. Solche Fähigkeiten stellen individuelle Potenziale dar, die ein Mensch beim akademischen Lernen einsetzen kann, die aber auch für praktische Tätigkeiten und für soziale Anpassungsleistungen relevant sind. Sie sind einerseits förderlich für die schulische Leistungsentwicklung, aber sie werden andererseits selbst durch schulische Bildung beeinflusst (Tröster, 2019, S. 174).
Das Ergebnis eines Intelligenztests stellt einen momentanen Entwicklungsstand dar. Es sollte nie zum Anlass genommen werden, pädagogische Bemühungen um ein Kind zu reduzieren oder gar einzustellen. Ein Kind kann immer dazulernen und sich weiterentwickeln. Ein gemessener Intelligenzquotient ist nicht fix, sondern veränderbar, nicht zuletzt durch Schule und Unterricht.
Der Begriff der Intelligenz bezieht sich auf eine oder mehrere komplexe und nicht direkt beobachtbare Kompetenzen, die in unterschiedlichen Theorien erklärt worden sind, die wiederum in unterschiedlichen Testverfahren konkretisiert worden sind (für eine Übersicht vgl. Süß & Beauducel, 2011). Es gibt folglich nicht „den“ Intelligenztest, sondern viele Verfahren und man muss ein geeignetes Verfahren auswählen. Wer einen Intelligenztest auswählt oder die Ergebnisse eines Intelligenztests auswertet, sollte folglich wissen, was der gewählte Test inhaltlich misst und wie die Ergebnisse pädagogisch interpretiert werden können.
Wir werden zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Intelligenz vergleichen, deren Verständnis bei der Interpretation von Testergebnissen wichtig ist, weil beide Ansätze zu unterschiedlichen Testverfahren führen, die in der schulischen Praxis häufig Verwendung finden.
Eindimensionale Tests zur Messung der Kernintelligenz
Dem ersten Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass unterschiedliche intelligente Leistungen – z. B. im sprachlichen und im mathematischen Bereich – auf eine, allen Leistungen zugrunde liegende Kernintelligenz zurückgehen, meist als „schlussfolgerndes Denken“ bezeichnet. Dieses gilt als generalisierbare Kompetenz allgemeiner geistiger Anpassungsfähigkeit (Schmidt-Atzert, Krumm & Amelang, 2021), die man in einem eindimensionalen Test möglichst direkt erfassen möchte (Kuhl, Wittich & Schulze, 2022).
In der Praxis erweist sich die unverstellte Messung schlussfolgernden Denkens jedoch als schwierig, denn die sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes und die Ergebnisse seiner bisherigen schulischen Bildung gehen in erheblichem Maße in die Lösung von Denkaufgaben ein.
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Wenn ein Kind die Sprache, in welcher der Test gegeben wird, nicht oder unzureichend beherrscht, ist die Testung nicht fair, denn sie droht auf Grund kommunikativer Probleme die kognitive Anpassungsfähigkeit des Kindes zu unterschätzen.
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Wenn ein Kind nicht oder kaum die Schule besuchen konnte oder wenn die Schule nur unzureichende Bildungsangebote unterbreitet hat, ist die Testung nicht gültig, denn sie spiegelt die Ergebnisse missglückter schulischer Bildung wider und wird die kognitive Anpassungsfähigkeit des Kindes unterschätzen.
Um beide Quellen für Fehldiagnosen zu minimieren, werden oft sprachfreie Aufgaben verwendet und Inhalte gewählt, die inhaltlich relativ frei von typischen schulischen Anforderungen sind. Die folgende Abbildung zeigt Beispielaufgaben aus dem Grundintelligenztest von Weiß (2019), ein im schulischen Bereich häufig verwendeter Test, der sogar in einer gesondert normierten PC-Version für geistig beeinträchtigte Personen vorliegt.
Beispielaufgaben aus dem CFT 20-R (Weiß 2019, © Hogrefe)
Die Aufgabenformate gehen auf die weit verbreiteten „culture fair tests“ von Cattell (1940) zurück. Bei ansteigender Aufgabenschwierigkeit müssen (a) Reihen von Figuren richtig fortgesetzt, (b) nicht in eine Reihe passende Figuren identifiziert, (c) Matrizen von Figuren richtig ergänzt und (d) ähnliche Figuren erkannt werden.
Aufgaben wie diese gelten seit Cattell (1940) als schulisch fair, weil sie im Unterricht kaum behandelt werden, so dass Kinder aus unterschiedlichen Schulen gleiche Chancen haben. Sie gelten zudem als sprachlich fair, weil alle Aufgaben mit figuralem Material präsentiert werden und das Kind seine Aufgabenlösungen manuell zeigen kann, ohne dass es mündliche oder schriftliche Antworten produzieren muss. Bei der Vorstellung der Aufgaben hingegen kann der Testleiter bzw. die Testleiterin zwar vieles manuell zeigen, aber das Kind sollte die begleitenden sprachlichen Erläuterungen verstehen.
Die inhaltliche Interpretation solcher eindimensionalen Intelligenztestergebnisse ist nicht einfach. Der Grundintelligenztest von Weiß (2019) versucht, das kognitive Potenzial eines Kindes im Sinne einer allgemeinen kognitiven Anpassungsfähigkeit mit Hilfe alltagsferner und künstlicher Aufgaben zu erfassen. Diese Aufgaben haben zwar den Vorteil, dass sie sprachlich und curricular relativ neutral sind, aber sie haben zugleich den Nachteil, dass sie keine Auskunft geben über schulisch-akademisches Denken und alltägliches Problemlösen.
Mehrdimensionale Tests zur Messung von Intelligenzkomponenten
Der zweite Ansatz verfolgt das Ziel, statt einer relativ eng definierten Kernintelligenz in einem mehrdimensionalen Testverfahren die allgemeine Intelligenz über ein breiteres Spektrum verschiedener kognitiver Fähigkeiten zu messen, indem z.B. gezielt sprachliche und nichtsprachliche Leistungen, das rechnerische und das räumliche Denken, das Arbeitsgedächtnis und die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit oder Wahrnehmungsleistungen erfasst werden.
Ein Beispiel für diesen Ansatz ist der Intelligenztests für Kinder von Wechsler (2017). Die folgende Tabelle zeigt im Überblick die 15 Untertests. Den Heranwachsenden werden zunehmend schwierigere Aufgaben vorgelegt, die nicht direkt aus schulischen Curricula stammen, damit nicht Schülerinnen und Schüler aus bestimmten Schulen bevorteilt werden. Für Wechsler bestand Intelligenz im Kern aus einer spontanen geistigen Anpassungsfähigkeit für Neues, und eine solche ließ sich nicht prüfen, wenn die zu testenden Personen Gelerntes memorieren konnten. Andererseits war intelligentes Handeln seiner Auffassung nach umwelt- und kulturabhängig, deswegen wurden Intelligenztestaufgaben typischen schulischen Aufgaben und Anforderungen nachempfunden.
Beispielaufgaben zu den 15 Subtests des WISC V, einem Intelligenztest für Kinder von Wechsler (2017, dargestellt in Anlehnung an Schmidt-Atzert, Krumm & Amelang 2021, S. 263)
Der mehrdimensionale Intelligenztest von Wechsler (2017) bildet in seinen Subtests ein breites Spektrum von relativ alltagsnahen und typischen akademischen Aufgaben ab, so dass über das Gesamtergebnis die Allgemeine Intelligenz und über die Subtestergebnisse die relativen Stärken und Schwächen eines Kindes bei unterschiedlichen Anforderungen geschätzt werden können. Man muss jedoch berücksichtigen, dass die einzelnen Untertests weniger zuverlässig messen als der Gesamttest und dass die sprachlichen, soziokulturellen und bildungsbiografischen Erfahrungen eines Kindes einen erheblichen Einfluss auf inhaltlich breit angelegte Verfahren haben (Schmidt-Atzert, Krumm & Amelang, 2021).
Wie wird ein Intelligenztest durchgeführt?
Ein Intelligenztest sollte in einem passend möblierten und ruhig gelegenen Raum ohne Zeitdruck und in entspannter Atmosphäre in Einzeltestung durchgeführt werden, damit die Person, die den Test durchführt, sich auf das Kind konzentrieren und sein Verhalten beobachten kann. Nachdem sie sich mit dem Kind bekannt gemacht und Kontakt hergestellt hat, führt sie den eigentlichen Test in einem hochgradig standardisierten dialogischen Verfahren durch. Sie erklärt und fragt verbal, zeigt dazu manchmal Bilder oder präsentiert Material, das Kind gibt oder schreibt Antworten, zeigt seine Antworten auf Bildkarten oder legt sie mit Material.
Die Lehrperson bemüht sich durchgängig um einen guten Kontakt zum Kind und ermutigt allgemein zur Mitarbeit, gibt jedoch keine Hilfen und keine Rückmeldungen zu den Lösungen des Kindes. In aller Regel sind die Tests so angelegt, dass die Aufgaben zunehmend schwieriger werden und dass sie innerhalb bestimmter Zeitvorgaben zu lösen sind. Alle Vorgaben sind grundsätzlich einzuhalten, aber bei Seh-, Hör- oder Sprachschwierigkeiten dürfen die Aufgaben verlangsamt vorgelesen werden und bei motorischen Problemen können als Nachteilsausgleich Zeitzugaben gegeben oder alternative Reaktionsmöglichkeiten eröffnet werden, die dann im Protokoll festgehalten werden.
Nach der Testdurchführung wertet die Lehrperson die Ergebnisse aus. Sie benutzt dabei konkret formulierte Auswertungsanweisungen und vergleicht bei komplexen Aufgaben die gezeigten Lösungen mit Lösungsbeispielen. Abschließend stellt sie fest, wie viele Punkte das Kind erreicht hat und schlägt in den Normtabellen nach, welcher Leistung diese Punktzahl in der entsprechenden Altersgruppe entspricht.
Wie wird Intelligenzminderung diagnostiziert?
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Intelligenzminderung als „Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten“, der „allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten“ könne und besonders Kompetenzen betreffe, „die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren … wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten“ (zitiert nach der deutschen Fassung des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), 2019, F70-F79). Zur Bestimmung einer Intelligenzminderung reichen laut WHO keine subjektiven Daten und Eindrücke aus, sondern es sind objektive, reliable und valide Messwerte zu verwenden, die mit standardisierten Testverfahren erhoben worden sind. Wenn zu solchen Verfahren Normdaten erhoben worden sind, lassen sich die individuellen Leistungen einer Person mit den durchschnittlichen Leistungen altersgleicher Personen vergleichen und statistisch einordnen.
Eine Intelligenzminderung wird festgestellt, wenn die Leistungen eines Kindes in einem Intelligenztest deutlich unter den Leistungen altersgleicher Kinder liegen. Die folgende Abbildung zeigt eine idealisierte Verteilung von IQ-Werten und die Lage und Auftretenshäufigkeit von drei Werten, die hierzulande bei der statistischen Definition von Geistiger Behinderung und von Lernbehinderung häufig benutzt werden.
Lage der Grenzwerte für Lernbehinderung und für zwei Schweregrade geistiger Behinderung auf der Skala der IQ-Werte mit Angabe der entsprechenden Prozentrangwerte (PR)
Die Abbildung zeigt als Mittelwert einen IQ von 100, um den herum sich alle IQ-Werte symmetrisch verteilen. Die Grenzwerte für Lernbehinderung und für leichte und mittelschwere Geistige Behinderung liegen unterhalb des Mittelwertes und weichen relativ deutlich bzw. sehr weit vom Mittelwert ab.
Konventionell wird ab einem IQ von 85 von unterdurchschnittlicher Intelligenz gesprochen, häufig als Grenzwert empfohlen zur Diagnose von Lernbehinderung (Grünke & Grosche, 2014). In repräsentativen Stichproben wird ein solcher oder ein schwächerer Wert bei etwa 16 Prozent aller Testungen gemessen (Prozentrang 16).
Weitaus seltener sind Testwerte, die laut WHO einer Geistigen Behinderung zugeordnet werden, denn leichte Geistige Behinderung wird bei einem IQ von 70 nur in knapp 2,3 Prozent aller Testungen festgestellt, mittelschwere Geistige Behinderung mit einem IQ von 50 in weniger als 0,1 Prozent aller Testungen.
Die Grenzwerte für schwere und schwerste Geistige Behinderung lassen sich auf der Skala der IQ-Werte gar nicht darstellen, denn sie kommen praktisch nicht vor. Intelligenztests können bei Menschen mit komplexen und schweren geistigen Beeinträchtigungen nicht sinnvoll eingesetzt werden, hier muss man in der Regel informelle subjektive Beobachtungsverfahren verwenden (Nußbeck, 2008, S. 10).
Was ist bei der praktischen Anwendung in der Schule zu beachten?
Intelligenztests sollen die intellektuellen Potenziale eines Kindes messen, damit sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf nicht voreilig und auf der Basis subjektiver Eindrücke, sondern auf der Grundlage von objektiven, reliablen und validen Daten zuerkannt wird. Das kann jedoch nur gelingen, wenn in der schulischen Praxis aktuelle Testverfahren zur Verfügung stehen und wenn sie fehlerfrei und kompetent angewendet werden. Huber (2000) oder Joél (2017, 2021) haben in empirischen Erhebungen festgestellt, dass in der Praxis bei Testvorbereitung, Testdurchführung und Testauswertung erhebliche Mängel zu beklagen sind, obwohl Intelligenztests im schulischen Bereich nur von entsprechend ausgebildeten und eigens beauftragten Personen durchgeführt und ausgewertet werden dürfen:
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Manchmal werden veraltete Testverfahren eingesetzt, weil nur diese den Lehrpersonen bekannt sind, manchmal können aktuelle Testversionen nicht beschafft werden. Fehlende Testmaterialien, Protokollbögen oder Auswertungshilfen gefährden eine Testdurchführung und -auswertung gemäß Vorgaben. In unzureichend ausgestatteten Räumen und unter Zeitdruck erreichen Kinder oft nicht die Leistungen, die ihrem Potenzial entsprechen.
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Viele Lehrkräfte testen nur selten und sind deshalb mit komplexen Verfahren überfordert. Insbesondere mehrdimensionale Tests werden zwar hinsichtlich ihrer Aussagekraft geschätzt, aber in der Praxis nur selten eingesetzt, weil sich die Lehrkräfte von der Komplexität der vielen Subtests und den vielen komplizierten Testabbruchregeln überfordert fühlen.
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Häufig werden die vorgegebenen Instruktionen in dem Bemühen, ein Kind zu entlasten und es auch unter schwierigen Bedingungen testen zu können, nicht nur in zulässiger Weise variiert, sondern durch zusätzliche Erklärungen und informative Rückmeldungen ergänzt, es werden verlängerte Lösungszeiten eingeräumt, Pausen eingelegt und Aufgabenabfolgen geändert.
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Bei der Auswertung wird das Testalter nicht immer gemäß den Vorgaben berechnet, Rohpunkte werden falsch addiert und tabellierte Normwerte falsch abgelesen, statistische Kennwerte fehlerhaft gebildet oder nicht korrekt interpretiert.
Standardisierte Test müssen den Vorgaben konform durchgeführt werden, soweit dies im individuellen Fall möglich ist, weil sonst der Vergleich der Leistungen eines einzelnen Kindes mit den Normdaten zu Fehlschlüssen führen kann. Bei manchen Kindern kann es nötig sein, die zeitliche Abfolge von Testaufgaben zu ändern, Ruhepausen einzulegen, zusätzliche Zeit zu geben oder das Kind zum Weitermachen zu ermutigen. Solche Maßnahmen sollten jedoch grundsätzlich im Protokoll vermerkt und bei der Beurteilung der Ergebnisse berücksichtigt werden.
Was leisten Intelligenztest bei der Feststellung von Unterstützungsbedarf?
Intelligenztestergebnisse eignen sich folglich mit Einschränkungen zur Fundierung von Selektionsentscheidungen, aber nicht für individuelle pädagogische Entscheidungen im Hinblick auf Unterricht und Förderungen, und das liegt an den Inhalten und an der messmethodischen Ausrichtung (Kuhl, Wittich & Schulze, 2022):
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Intelligenztests sind nicht curricular valide, d. h. sie messen nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten, die in der Schule vermittelt werden. Fragen wie die nach dem Stand eines/einer Lernenden in Relation zum Unterrichtsstoff, nach den unterrichtlich relevanten Stärken und Schwächen oder nach sinnvollen nächsten Lernaktivitäten können sie nicht beantworten.
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Intelligenztests sind nicht veränderungssensitiv, d.h., sie sind so konstruiert, dass sie mittelfristig verlässliche Prognosen gestatten, aber kurzzeitige Lernfortschritte nicht abbilden. Dies gilt besonders für schwache Lernende: Ein Kind im untersten Zehntel der Verteilung mag in drei Monaten nach einer Intelligenzmessung – individuell betrachtet – sehr viel dazu lernen, bei Testwiederholung wird sich dieser Kompetenzzuwachs im IQ nicht abbilden, weil der IQ als Abweichungswert solche Fortschritte durch Relativierung auf die durchschnittliche alterstypische Leistung schrumpft.
Oftmals hegen Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrer bei der Vorlage von Intelligenztestergebnissen pessimistische Erwartungen, was die Entwicklung eines Kindes angeht. Vorausgesetzt, ein IQ ist korrekt gemessen worden, kann man zwar nicht erwarten, dass dieser sich kurz- oder mittelfristig stark verbessert, aber daraus folgt nicht, dass das Kind nicht dazulernen oder sich nicht weiterentwickeln wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Kind bei guter Förderung erfreuliche Entwicklungsfortschritte zeigen wird.
Die mangelnde curriculare Validität und die geringe Veränderungssensitivität geben aus pädagogischer Sicht Anlass zu Optimismus: Der IQ zeigt einen momentanen Entwicklungsstand, der nicht fix ist, sondern verbessert werden kann. Das schulische Lernen umfasst mehr als die generelle Intelligenz, etwa Anstrengungsbereitschaft und Motivation, Einfühlungsvermögen und Kooperationsfähigkeit, soziales und fachliches Lernen. Wenn ein Kind sein Verständnis von Mengen und Zahlen in wenigen Wochen gezielter Förderung erkennbar verbessern kann, so zeigt es erfreuliche Entwicklungsfortschritte, und diese sind schulisch und lebenspraktisch wertvoll, unabhängig davon, ob sie sich im gemessenen IQ zeigen.
Falls Sie sich die Definition von Intelligenzminderung durch die Weltgesundheitsorganisation in der ICD-10 im Original ansehen möchten, finden Sie eine Onlinefassung der deutschen Ausgabe auf der Webseite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) unter dem Link: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/
Einen Überblick über Intelligenztestverfahren finden Sie bei Süß und Beauducel (2011) oder bei Tully (2014), online können Sie sich über fast alle aktuellen Verfahren auf der Webseite der Deutschen Testzentrale informieren: https://www.testzentrale.de/shop/tests/intelligenztests.html
Ausführungen zur Intelligenzmessung im Rahmen der Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs in zieldifferenten Bildungsgängen finden Sie auf unserer Webseite in den Teilmodulen zur Diagnostik im Schwerpunkt Geistige Entwicklung (IN ARBEIT) und Lernen (IN ARBEIT). Beachten Sie bitte: Intelligenztests dürfen nur von entsprechend ausgebildeten und im schulischen Bereich meist nur von eigens beauftragten Personen durchgeführt werden, in der Regel von Psychologinnen und Psychologen oder von Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung.