Lernschwierigkeiten zeigen sich in Schule und Unterricht zwar als Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler, aber sie entstehen aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lernmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen.

Die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF, 2022) des Landes NRW verlangt zunächst festzustellen, ob bei einem oder einer Lernenden sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Sinne einer Lernbehinderung vorliegt oder nicht und anschließend zu beschreiben, in welchen spezifischen Bereichen ein individuelles Kind auf welche Art und Weise zu fördern ist und wer, wann und an welchem Ort der Beschulung diese Förderangebote bereitstellen kann.

Wir werden in diesem Abschnitt zunächst im Überblick betrachten, wie sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens diagnostiziert wird, bevor wir auf Verfahren der unterrichtsorientierten Diagnostik verweisen, die für die Planung und Analyse von inklusivem Unterricht besonders relevant sind.

Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Lernen

Wenn ein Schüler oder eine Schülerin wenig erfolgreich lernt, taucht häufig die Frage auf, ob nur bereichsspezifische Lernschwierigkeiten wie eine Rechenschwäche oder eine Lese-Rechtschreibschwäche oder vorübergehende Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten vorliegen (vgl. die Ausführungen zu Lernschwierigkeiten) oder ob sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens angenommen werden muss (vgl. die Ausführungen zu Lernbehinderung). 

Die Anerkennung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ist in einem rechtlich geordneten Verfahren mit großer Sorgfalt zu klären, weil sie einerseits berechtigt, für die Betroffenen dauerhaft besondere pädagogische Hilfen in der schulischen und später in der beruflichen Ausbildung in Anspruch zu nehmen, andererseits jedoch zu einer Beschulung gemäß einem zieldifferenten Bildungsgang mit reduzierten Leistungsanforderungen führt, in NRW im Erfolgsfall nach Klasse 10 zum Abschluss des Bildungsgangs Lernen oder zu einem dem Ersten Schulabschluss (früher: „Hauptschulabschluss nach Klasse 9“) gleichwertigen Abschluss (AO-SF 2022, § 35). 

Die rechtlichen Vorgaben gestaltet jedes Bundesland in eigener Verantwortung, für Nordrhein-Westfalen ist die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF 2022) maßgeblich, die in § 4 (2) festlegt: „Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen besteht, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind.“ Nach Grünke und Grosche (2014, S. 77) sind Lern- und Leistungsausfälle 

  • umfänglich, wenn sie mehrere Unterrichtsfächer betreffen, in der Regel die Lernbereiche Deutsch und Mathematik, 
  • schwerwiegend, wenn sie zwei bis drei Schuljahre umfassen und
  • langdauernd, wenn sie über mehrere Jahre persistieren.

Darüber hinaus muss ausgeschlossen werden, dass die Lern- und Leistungsausfälle auf Sinnesschädigungen oder auf unzureichende schulische Lernmöglichkeiten zurückzuführen sind. Es sollte vielmehr deutlich werden, dass eine eingeschränkte Entwicklung der allgemeinen Intelligenz vorliegt. 

Liegen bei einem Kind signifikante schulische Leistungsrückstände vor und gehen diese einher mit einer verzögerten Intelligenzentwicklung? Bei der Beantwortung dieser Fragen werden sich die gutachtenden Pädagoginnen und Pädagogen zunächst die bisherige schulische Entwicklung und den aktuellen Leistungsstand des Kindes im Vergleich zu den Leistungen seiner Lerngruppe und den typischen Leistungserwartungen seines Schuljahres ansehen und seine familiäre und seine individuelle soziale Situation betrachten. 

In bisherige Befunde und Berichte können jedoch subjektive Fehlurteile Eingang gefunden haben, wenn z.B. ein gestörtes Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler*in zu mangelhafter Anstrengung in der Schule geführt hat oder wenn ein Kind, das eigentlich jahrgangskonforme Leistungen zeigt, mit den Leistungen einer besonders leistungsstarken Lerngruppe verglichen wird. Die gutachtenden Pädagoginnen und Pädagogen werden folglich versuchen, objektive Daten zu den Schulleistungen und zur Intelligenzentwicklung zu erheben. 

  • Zur objektiven Messung von Schulleistungen lässt sich in standardisierten Mehrfächertests feststellen, ob ein Kind in den Kernfächern Leistungen zeigt, die seinem Alter bzw. seiner Jahrgangsklasse entsprechen. Die individuellen Leistungen können mit der Lerngruppe verglichen werden, falls diese insgesamt getestet wurde, in jedem Fall jedoch mit den Daten einer repräsentativen Eichstichprobe. Auf dieser Grundlage kann die Beurteilung der individuellen Schulleistungen objektiv erfolgen und es lässt sich feststellen, ob und in welchen Kompetenzbereichen und in welchem Ausmaß Rückstände in der schulischen Leistungsentwicklung zu verzeichnen sind. 
  • Zur objektiven Messung der Intelligenzentwicklung lässt sich in standardisierten Intelligenztests feststellen, ob und wie deutlich die individuelle Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen von der durchschnittlichen Leistung altersgleicher Personen abweicht. Intelligenztests sind umfangreiche, meist inhaltlich breit angelegte und mit Sorgfalt an einer großen Stichprobe von Personen normierte Sammlungen von vielfältigen Aufgaben, die sich als typische Aufgaben für bestimmte Altersgruppen bewährt haben. Erfasst werden kognitive Basisfähigkeiten wie das sprachliche Denken, das numerische Denken, das räumliche Vorstellungsvermögen, die visuelle und die auditive Wahrnehmung, die Merkfähigkeit oder die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit bis hin zu Formen des abstrakten schlussfolgernden Denkens. Solche Basisfähigkeiten stellen schulisch relevante Potenziale dar, aber sie sind nicht zu verwechseln mit schulisch vermittelten Inhalten und Fertigkeiten (Tröster 2019). Die Ergebnisse werden in der Regel als sog. Intelligenzquotienten (IQ) ausgedrückt, für die gilt: Individuelle Testergebnisse größer 100 weisen auf überdurchschnittliche Leistungen im Vergleich zu altersgleichen Personen hin, individuelle Testergebnisse kleiner 100 auf unterdurchschnittliche Leistungen und je weiter ein individuell erzielter IQ von 100 entfernt ist, desto besser bzw. schwächer ist die Leistung im Vergleich zum Altersdurchschnitt.

Bei der Entscheidungsfindung, ob eine Lernbehinderung bzw. sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens gegeben ist, sind in jedem einzelnen Fall alle vorliegenden Daten pädagogisch zu würdigen. Als Richtwerte gelten, dass in mindestens zwei Kernfächern die Schulleistungen im untersten Viertel (Prozentrang 25) und der IQ unter 85 liegen sollte, ein Wert im untersten Sechstel der Werteverteilung (Prozentrang 16) (vgl. Grünke & Grosche, 2014).

Diagnose unterrichtsrelevanter Kompetenzen

Die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist zentral für die Bildungsbiografie eines/einer Heranwachsenden, im alltäglichen Unterricht stellen sich Lehrkräften andere diagnostische Fragen, die mit anderen diagnostischen Instrumenten zu beantworten sind. Aus der Sicht einer auf Unterricht bezogenen Diagnostik gilt es festzustellen, welche Kompetenzen ein Kind bereits erfolgreich erwerben konnte, welche Kompetenzen noch nicht oder nur unzureichend beherrscht werden und was sinnvolle nächste Schritte der Anregung und Förderung im Unterricht sein könnten. 

Fragen wie diese können nicht mit Intelligenztests oder mit Schulleistungstests beantwortet werden, sondern sie müssen unterrichtsnah und für jedes Schulfach gesondert gestellt und mit qualitativ orientierten Verfahren beantwortet werden. Im Rahmen der Leitidee „Diagnosegeleitet fördern“ wird dargestellt, dass Diagnose und Förderung auf das Engste miteinander verknüpft sind:


Diagnose- und Fördermomente zeigt, dass Lehrkräfte im Unterricht kontinuierlich diagnostisch und fördernd tätig sind und dass sich durch „geschicktes“ Nachfragen oder „kleine“ Impulse während der Arbeitsphasen nicht selten spontane Diagnose- und Fördermomente ergeben.


Diagnose- und Fördergespräche können umfassende Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden liefern und Grundlage für Fördermaßnahmen sein, wenn sie kompetent vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden.


Diagnose- und Förderaufgaben wollen mit Bedacht formuliert sein, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und die Entwicklung dieser zu fördern.


Planung von Förderung formuliert individuelle Kompetenzerwartungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und erleichtert die Zusammenarbeit der Lehrkraft mit weiteren „Expert*innen“ wie Sonderpädagog*innen, Eltern, Therapeut*innen, Ärzt*innen, etc.


Unterrichtsrelevante Tests dienen der Feststellung eines punktuellen Lernstands (Lernstandsdiagnose), um die Kompetenzen eines Kindes als Ausgangspunkte für die weitere Lernentwicklung zu nutzen.


Eine auf selbstständiges Lernen setzende Unterrichtsorganisation betont die besondere Bedeutung eines unterrichtsintegrierten „Diagnose- und Förderkreislaufs“, denn Förderung ohne vorangehende Diagnose erfolgt in der Regel unspezifisch, wohingegen Diagnose ohne darauf aufbauende Förderung häufig wirkungslos bleibt (vgl. Hußmann & Selter, 2013).
 


Über das Bedarfsfeststellungsverfahren können Sie sich eingehender im Modul AO-SF in einem Erklärvideo kundig machen, dort finden Sie auch detailliertere Hinweise zum Hintergrund des Verfahrens und Verweise auf einschlägige Internetressourcen. 

Ein weiterer Abschnitt informiert über Intelligenzmessung [Kurz-URL: https://pikas-mi.dzlm.de/node/NNN], indem er an Beispielen zeigt, wie Intelligenztests aufgebaut sind, wie sie verwendet werden und wie sie pädagogisch zu interpretieren sind.

Über die Verknüpfung von Diagnose und Förderung bei der Planung und Analyse von inklusivem Unterricht informieren wir Sie ausführlich im Rahmen der Leitidee Diagnosegeleitet fördern.