Lernschwierigkeiten zeigen sich in Schule und Unterricht zwar als Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler, aber sie entstehen aufgrund unzureichender Passung zwischen den Lernmöglichkeiten eines Kindes, den schulisch verfügbaren Lernressourcen und den schulisch formulierten Leistungsanforderungen. Ob bei einem oder einer Lernenden mit Lernschwierigkeiten sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Sinne einer Lernbehinderung vorliegt, ist in einem gutachterlichen Verfahren zu klären. Falls Unterstützungsbedarf festgestellt wird, ist differenziert zu erläutern, in welchen spezifischen Bereichen ein individuelles Kind auf welche Art und Weise zu fördern ist und wer, wann und an welchem Ort der Beschulung diese Förderangebote bereitstellen kann (vgl. hierzu die Ausführungen zur AO-SF).
Wir werden in diesem Abschnitt zunächst im Überblick betrachten, wie sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens diagnostiziert wird, bevor wir auf Verfahren der unterrichtsorientierten Diagnostik verweisen, die für die Planung und Analyse von inklusivem Unterricht besonders relevant sind.
Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Schwerpunkt Lernen
Wenn ein Schüler oder eine Schülerin wenig erfolgreich lernt, taucht häufig die Frage auf, ob nur bereichsspezifische Lernschwierigkeiten wie eine Rechenschwäche oder eine Lese-Rechtschreibschwäche oder vorübergehende Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten vorliegen (vgl. die Ausführungen zu Lernschwierigkeiten) oder ob sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens angenommen werden muss (vgl. die Ausführungen zu Lernbehinderung).
Die Anerkennung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf ist in einem rechtlich geordneten Verfahren mit großer Sorgfalt zu klären, weil sie einerseits berechtigt, für die Betroffenen dauerhaft besondere pädagogische Hilfen in der schulischen und später in der beruflichen Ausbildung in Anspruch zu nehmen, andererseits jedoch zu einer Beschulung gemäß einem zieldifferenten Bildungsgang mit reduzierten Leistungsanforderungen führt, in NRW im Erfolgsfall nach Klasse 10 zum Abschluss des Bildungsgangs Lernen oder zu einem dem Ersten Schulabschluss (früher: „Hauptschulabschluss nach Klasse 9“) gleichwertigen Abschluss (AO-SF 2022, § 35).
Die rechtlichen Vorgaben gestaltet jedes Bundesland in eigener Verantwortung, für Nordrhein-Westfalen ist die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF 2022) maßgeblich, die in § 4 (2) festlegt: „Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen besteht, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind.“ Nach Grünke und Grosche (2014, S. 77-78) sind Lern- und Leistungsausfälle
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umfänglich, wenn sie mehrere Unterrichtsfächer betreffen, in der Regel die Lernbereiche Deutsch und Mathematik,
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schwerwiegend, wenn sie den Lernstoff von mindestens zwei bis drei Schuljahre umfassen und
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langdauernd, wenn sie über mehrere Jahre persistieren.
In einer sorgfältigen Anamnese muss ausgeschlossen werden, dass die Lern- und Leistungsausfälle auf Sinnesschädigungen oder auf unzureichende schulische Lernmöglichkeiten zurückzuführen sind. Darüber hinaus empfiehlt sich nach Grünke und Grosche (2014) eine Untersuchung der allgemeinen Intelligenzentwicklung, auch wenn Lernbehinderung in Einzelfällen auf andere als kognitive Faktoren zurückgehen kann, z. B. auf die individuelle familiäre Situation oder mangelnde soziale Integration in die Lerngruppe.
Liegen bei einem Kind signifikante schulische Leistungsrückstände vor und gehen diese einher mit einer verzögerten Intelligenzentwicklung?
Bei der Beantwortung dieser Fragen werden sich die gutachtenden Pädagoginnen und Pädagogen zunächst die bisherige schulische Entwicklung und den aktuellen Leistungsstand des Kindes im Vergleich zu den Leistungen seiner Lerngruppe und den typischen Leistungserwartungen seines Schuljahres ansehen und seine familiäre und seine individuelle soziale Situation betrachten.
In bisherige Befunde und Berichte können jedoch subjektive Fehlurteile Eingang gefunden haben, wenn z. B. ein gestörtes Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler*in zu mangelhafter Anstrengung in der Schule geführt hat oder wenn ein Kind, das eigentlich jahrgangskonforme Leistungen zeigt, mit den Leistungen einer besonders leistungsstarken Lerngruppe verglichen wird. Die gutachtenden Pädagoginnen und Pädagogen werden folglich versuchen, objektive Daten zu den Schulleistungen und zur Intelligenzentwicklung zu erheben.
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Zur objektiven Messung von Schulleistungen lässt sich in standardisierten Schulleistungstests feststellen, ob ein Kind in den Kernfächern Leistungen zeigt, die seinem Alter bzw. seiner Jahrgangsklasse entsprechen. Die individuellen Leistungen eines Kindes können mit der Lerngruppe verglichen werden, falls diese insgesamt getestet wurde, in jedem Fall jedoch mit den Daten einer repräsentativen Eichstichprobe. Auf dieser Grundlage kann die Beurteilung der individuellen Schulleistungen objektiv erfolgen und manche Testverfahren liefern erste Hinweise, ob und in welchen Kompetenzbereichen und in welchem Ausmaß Rückstände in der schulischen Leistungsentwicklung zu verzeichnen sind (weiterführende Informationen unter Schulleistungsmessung).
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Zur objektiven Messung der Intelligenzentwicklung lässt sich in standardisierten Intelligenztests feststellen, ob und wie deutlich die individuelle Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen von der durchschnittlichen Leistung altersgleicher Personen abweicht. Intelligenztests erfassen kognitive Basisfähigkeiten wie das sprachliche, numerische und räumliche Denken, die Wahrnehmung und die Merkfähigkeit oder die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und das abstrakt schlussfolgernde Denken, die schulisch relevante Potenziale darstellen (Tröster, 2019). Die Ergebnisse werden in der Regel als sog. Intelligenzquotienten (IQ) ausgedrückt, das sind Werte, welche individuell erzielte Ergebnisse einer Person relativ zu den durchschnittlichen Leistungen altersgleicher Personen beurteilen (weiterführende Informationen unter Intelligenzmessung).
Bei der Entscheidungsfindung, ob eine Lernbehinderung bzw. sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens gegeben ist, sind in jedem einzelnen Fall alle vorliegenden Daten pädagogisch zu würdigen. Als Richtwerte gelten, dass in mindestens zwei Kernfächern die Schulleistungen im untersten Viertel und im Intelligenztest im untersten Sechstel der Werteverteilung liegen (vgl. Grünke & Grosche, 2014, S. 80).
Prozentrangskala mit den konventionell empfohlenen Grenzwerten für die Diagnose von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Lernen (Intelligenztestwert kleiner/gleich Prozentrang 16, Schulleistungstestwert kleiner/gleich Prozentrang 25)
Die Abbildung zeigt, dass diese konventionell empfohlenen Grenzwerte im äußeren unteren Bereich der Prozentrangskala liegen:
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Im Schulleistungstest sollte der individuell erreichte Wert eines Kindes unterhalb Prozentrang 25 liegen, das entspricht einer Leistung, die von 25 oder weniger Prozent vergleichbarer Kinder erreicht und von mindestens 75 Prozent übertroffen wird.
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Im Intelligenztest sollte der individuell erreichte Wert auf oder unter Prozentrang 16 liegen, das entspricht einem Intelligenzquotienten unter 85, der nur von 16 Prozent vergleichbarer Kinder erreicht oder unterschritten und von mindestens 84 Prozent übertroffen wird.
Intelligenztests dürfen nur von entsprechend ausgebildeten und im schulischen Bereich meist nur von eigens beauftragten Personen durchgeführt werden, in der Regel von Psychologinnen und Psychologen oder von Lehrkräften für sonderpädagogische Förderung. Auch Schulleistungstests sollten nur von fachlich kompetenten Personen durchgeführt und ausgewertet werden.
Falls Sie sich über Tests und deren Verwendung eingehender informieren möchten: Auf dieser Webseite erklären wir im Modul AO-SF an ausgewählten Beispielen den Aufbau, die Durchführung, die Auswertung und die pädagogische Interpretation von pädagogischen Tests, Intelligenztests und Schulleistungstests.
Diagnose unterrichtsrelevanter Kompetenzen
Die Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs ist eine zentrale Schaltstelle in der Bildungsbiografie eines/einer Heranwachsenden. Im schulischen Alltag stellen sich Lehrkräften jedoch andere, auf den Unterricht bezogene diagnostische Fragen:
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Welche Kompetenzen konnte ein Kind bereits erfolgreich erwerben?
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Welche Kompetenzen werden noch nicht oder nur unzureichend beherrscht?
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Was könnten sinnvolle nächste Schritte der Anregung und Förderung im Unterricht sein?
Fragen wie diese lassen sich nicht mit Intelligenz- oder Schulleistungstests beantworten. Sie müssen unterrichtsnah und für jedes Schulfach gesondert gestellt und mit qualitativ orientierten Verfahren bearbeitet werden, die das fachliche Lernen der Schülerinnen und Schüler direkt in den Blick nehmen. Auf dieser Webseite wird im Rahmen der Leitidee „Diagnosegeleitet fördern“ dargestellt, dass Diagnose und Förderung auf das Engste miteinander verknüpft sind:
Diagnose- und Fördermomente zeigt, dass Lehrkräfte im Unterricht kontinuierlich diagnostisch und fördernd tätig sind und dass sich durch „geschicktes“ Nachfragen oder „kleine“ Impulse während der Arbeitsphasen nicht selten spontane Diagnose- und Fördermomente ergeben.
Diagnose- und Fördergespräche können umfassende Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden liefern und Grundlage für Fördermaßnahmen sein, wenn sie kompetent vorbereitet, durchgeführt und reflektiert werden.
Diagnose- und Förderaufgaben wollen mit Bedacht formuliert sein, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und die Entwicklung dieser zu fördern.
Planung von Förderung formuliert individuelle Kompetenzerwartungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und erleichtert die Zusammenarbeit der Lehrkraft mit weiteren „Expert*innen“ wie Sonderpädagog*innen, Eltern, Therapeut*innen, Ärzt*innen, etc.
Unterrichtsrelevante Tests dienen der Feststellung eines punktuellen Lernstands (Lernstandsdiagnose), um die Kompetenzen eines Kindes als Ausgangspunkte für die weitere Lernentwicklung zu nutzen.
Eine auf selbstständiges Lernen setzende Unterrichtsorganisation betont die besondere Bedeutung eines unterrichtsintegrierten „Diagnose- und Förderkreislaufs“, denn Förderung ohne vorangehende Diagnose erfolgt in der Regel unspezifisch, wohingegen Diagnose ohne darauf aufbauende Förderung häufig wirkungslos bleibt (vgl. Hußmann & Selter, 2013).
Über das Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs können Sie sich eingehender im Modul AO-SF in einem Erklärvideo kundig machen. Dort finden Sie am Beispiel der Regelungen in Nordrhein-Westfalen auch detailliertere Hinweise zum Hintergrund des Verfahrens und Verweise auf einschlägige Internetressourcen sowie einen Überblick über entsprechende pädagogische Testverfahren.