Die Vielfalt der Lernvoraussetzungen, die es bei Kindern mit Unterstützungsbedarf im Lernen zu berücksichtigen gilt, erschwert die Planung und Umsetzung des Mathematikunterrichts. Muss für Kinder wie Max (Einstieg) der Mathematikunterricht neu erfunden werden? Wohl kaum, denn inklusiver Mathematikunterricht ist zunächst einmal fachlich und fachdidaktisch guter Mathematikunterricht. Im inklusiven Unterricht sollten die Kriterien guten Mathematikunterrichts berücksichtigt werden, sie sind jedoch den spezifischen Rahmenbedingungen heterogener Lerngruppen anzupassen (Scherer & Moser Opitz, 2010).
Nicht selten können bewährte Unterrichtsideen als Ausgangslage genutzt und durch weiterreichende Differenzierungs- und Unterstützungsmaßnahmen ergänzt werden. Dennoch sehen sich die Lehrkräfte in inklusiven Klassen vor große Herausforderungen gestellt, denn die Lernvoraussetzungen der Lernenden sind äußerst heterogen. Oft variiert in sog. Jahrgangsklassen schon das Lebensalter um zwei bis drei Jahre, aber selbst bei nahezu gleichem Lebensalter sind verschiedene Kinder körperlich, kognitiv und emotional-sozial unterschiedlich weit entwickelt, sie verfügen im Mathematikunterricht über mehr oder weniger fachliche Vorkenntnisse, sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lernstrategien und ihres Arbeitsverhaltens und sie zeigen sehr differente sprachliche, familiäre, kulturelle und religiöse Hintergründe.
Die Unterschiede in den Lernvoraussetzungen sind bei Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf im Bereich des Lernens besonders groß – wenn sie von der Lehrkraft nicht beachtet werden, droht den Kindern Lernversagen, denn sie können mangels ausreichend ausgebildeter Lernvoraussetzungen oft nicht oder nur eingeschränkt vom Unterricht auf dem Anforderungsniveau der Jahrgangsklasse profitieren.
Denken Sie nur an Max, den im Einstieg dargestellten Schüler: Er besucht die Schule im vierten Jahr, aber er rechnet im Zahlenraum 20 noch mit den Fingern. Dem Schüler sollte gezielt geholfen werden, damit er das zählende Rechnen überwindet, weil ihm ansonsten der Anschluss an das Niveau der Klassengruppe dauerhaft verloren gehen dürfte.
Wie können im Mathematikunterricht Lernumgebungen geschaffen werden, die es allen Kindern ermöglichen, am gleichen Lerngegenstand und doch auf verschiedenen Anforderungsniveaus zu arbeiten?
Im Projekt "Mathe inklusiv mit PIKAS" gehen wir davon aus, dass ein inklusiver Mathematikunterricht verlangt, alle Kinder in ihrer Vielfalt anzunehmen, also jedes Kind so zu akzeptieren, wie es ist und zugleich jedem einzelnen Kind möglichst gute, individuell passende unterrichtliche Angebote zu bieten. Unter der Rubrik Leitideen können Sie vier themenübergreifenden Strategien nachgehen, die helfen können, einen solchen Unterricht zu realisieren: Aufgaben adaptieren, Diagnosegeleitet fördern, Effektiv üben (in Vorbereitung) sowie Gemeinsamen Austausch anregen. Die dort vorgeschlagenen Aktivitäten lassen sich vier Qualitätsmerkmalen guten inklusiven Mathematikunterrichts zuordnen.
Wegen unzureichend ausgebildeter Lernvoraussetzungen bedürfen Schülerinnen und Schüler mit besonderem Unterstützungsbedarf einer durchgängigen Differenzierung der Anforderungen und Hilfen. Ein Unterricht, der nur aus Lernangeboten auf dem Niveau der Jahrgangstufe besteht, überfordert diese Kinder. Im inklusiven Unterricht wird die Lehrkraft alle Möglichkeiten der inneren Differenzierung nutzen, das sind alle Maßnahmen der individuellen Passung von Inhalten, Zielen, Anforderungen, Medien und Methoden des Unterrichts, die der Sicherung des Lernerfolgs aller Lernenden dienen. Sie wird die Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit annehmen und die Anzahl und das Niveau der Aufgaben, die Art und den Umfang der Lehrerhilfe, die Medien und die Sozialformen des Unterrichts individuell anpassen (Muth, 1983).
Unter der Leitidee Aufgaben adaptieren finden Sie instruktive Unterrichtsbeispiele:
Das Anforderungsniveau von Aufgabenstellungen kann auf der Grundlage der in den Grundschulrichtlinien unterschiedenen Anforderungsbereiche (Reproduzieren, Zusammenhänge herstellen, Verallgemeinern und Reflektieren) innerhalb einer Aufgabe oder in unterschiedlichen Teilaufgaben variabel angesprochen werden.
Die Bearbeitung einer Aufgabenstellung kann durch unterschiedliche Formen der individuell angepassten Lernunterstützung (Tipps, Hilfsaufgaben, Sternchenaufgaben, Transferaufgaben, Wortspeicher, …) erleichtert werden.
Das Nutzen von Forschermitteln (Pfeile, Hervorhebungen, farbige Markierungen, Plättchen, Kärtchen zum Ordnen, Nummerierungen, …) kann die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, mathematische Strukturen zu entdecken („Instrument des Forschens“), Entdecktes darzustellen („Dokument des Forschens“) und über Dargestelltes zu kommunizieren („Instrument des Kommunizierens“).
Die Bearbeitung einer Aufgabe wird durch die Bereitstellung unterschiedlicher Zugänge sowie die Nutzung und Vernetzung verschiedener Darstellungsformen (Handlungen an und mit Material, Nutzung bildlicher Darstellungen, sprachliche oder symbolische Darstellung) erleichtert.
Die durchgängige Differenzierung der Anforderungen und Hilfen ist die älteste und vermutlich besonders naheliegende Idee zum unterrichtlichen Umgang mit großer Heterogenität, aber sie sollte von der Lehrkraft sorgfältig bedacht werden; denn größtmögliche Differenzierung kann zu einer Vereinzelung der Lernenden führen. Wenn eine Lehrperson meint, indem sie alle Kinder einer Lerngruppe grundsätzlich und immer mit individuell ausgesuchten Aufgaben, Materialien und Lernhilfen befasst, könne sie diese optimal fördern, unterbleibt das Gemeinsame Lernen miteinander und voneinander. Lehrkraft und Kinder tappen in die sog. Individualisierungsfalle (Brügelmann, 2011).
Im Projekt "Mathe inklusiv mit PIKAS" achten wir deshalb auf eine Integration von fachlichen und sozialen Aktivitäten: Ein inklusiver Mathematikunterricht verlangt nicht zwingend, dass alle Kinder immer und miteinander am gemeinsamen Gegenstand lernen. Inklusiver Mathematikunterricht besteht vielmehr aus einem ausgewogenen Verhältnis von gemeinsamen Aktivitäten in der gesamten Lerngruppe und individuellen Aktivitäten in Kleingruppen und in Partner- und Einzelarbeit und dies schließt ein, dass Lernende zeitweilig eigene Inhalte und Ziele auf eigenen Lernwegen verfolgen.
Wenn bei der Formulierung von Aufgaben für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem Vorwissen Aufgaben mit gleicher oder ähnlicher Struktur, aber unterschiedlichen Inhalten oder Schwierigkeitsgraden erstellt werden, dann lassen diese analoge mathematische Anforderungen zu, die sich in Anspruch und Komplexität zwar unterscheiden, aber im Sinne des Spiralprinzips aufeinander aufbauen. Gemeinsames Lernen durch wechselseitigen Austausch wird durch solche Aufgaben gefördert.
Unter dieser Leitidee werden zahlreiche Möglichkeiten erörtert, wie sich im inklusiven Mathematikunterricht Vorhaben so arrangieren lassen, dass sich alle Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweiligen Lernmöglichkeiten an Prozessen des Gemeinsamen Lernens beteiligen können, indem sie sich über gemeinsame Inhalte und übergeordnete Problemstellungen austauschen.
Da die Interaktion und Kommunikation der Schülerinnen und Schüler untereinander im inklusiven Mathematikunterricht besonders wichtig ist, sollte die Lehrkraft überlegen, ob sie das Planungsmonopol für Differenzierungsentscheidungen nicht zeitweise aus der Hand geben und in die Hände der Lernenden legen sollte. Diesen Ansatz verfolgt die inhaltliche und methodische Öffnung des Unterrichts durch natürliche Differenzierung von Aufgaben und Aktivitäten (vgl. Krauthausen & Scherer, 2014).
Die Aufgabenauswahl wird innerhalb eines durch die Aufgabenstellung aufgespannten Rahmens, der vielfältige Wahlmöglichkeiten eröffnet, durch die Schülerinnen und Schüler selbst realisiert. Sie können eine offen gestellte Aufgabe auf ihrem individuellen Kenntnisniveau interpretieren, auf diese Weise Komplexität und Anspruchsniveau selbst bestimmen und auf eigenen Wegen zu individuellen Lösungen gelangen.
Durch die Verwendung von mathematisch reichhaltigen Aufgaben („ergiebige Aufgaben“), die auf mathematischen Gesetzmäßigkeiten und Mustern beruhen, können die Lernenden unterschiedliche Vorgehensweisen zur Bearbeitung der Aufgabe im Hinblick auf individuelle Lernwege selbst auswählen.
Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf im Lernen benötigen fast immer eine diagnosegeleitete, individuelle und intensive Förderung. Sie haben in aller Regel wichtige mathematische Vorkenntnisse und Kompetenzen nicht oder nur unzureichend erwerben können und sie brauchen eine gezielte und anhaltende Förderung, weil sie ansonsten den Anschluss an die Lerngruppe zu verlieren drohen. Damit eine solche Förderung gezielt erfolgen kann, muss sie auf diagnostischen Einsichten aufbauen und praxisbegleitend evaluiert werden (Weinert, 2000).
Zwei Leitideen erörtern wichtige didaktische Fragen und stellen praktische Beispiele vor, diagnosegeleitet fördern und effektiv üben.
Im Rahmen der Leitidee des diagnosegeleiteten Förderns wird die Auswahl von Aufgaben erörtert, die als Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben geeignet sind, um mathematische Kompetenzen zu diagnostizieren und deren Entwicklung zu fördern. Es wird gezeigt, dass im inklusiven Mathematikunterricht spontane Diagnosemomente und Fördermomente miteinander verschränkt sind, die durch geschicktes Nachfragen oder gezielte Impulse während der Arbeitsphasen entstehen.
Diese münden nicht selten in Diagnosegespräche und Fördergespräche, in deren Verlauf umfassende Erkenntnisse zu den Denkweisen und Fortschritten der Lernenden zu gewinnen sind, auf deren Grundlage Fördermaßnahmen entwickelt werden können.
Solche diagnostischen Daten können mit Lernstandsdiagnosen aus unterrichtsrelevanten Tests kombiniert werden und im Abgleich mit individuellen Kompetenzerwartungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen zu einer Lern- und Entwicklungsplanung integriert werden, welche die gezielte und systematische Förderung im zeitlichen Verlauf und die Zusammenarbeit von Lehrkräften, Eltern und weiteren Experten regelt.
Hinsichtlich möglicher Diagnose- und fördergünstige Unterrichtsorganisation nimmt neben einer Einzel- oder Kleingruppenförderung die unterrichtsintegrierte Förderung im Rahmen des inklusiven Unterrichts den größten Teil der Lehrertätigkeit im Bereich der diagnosegeleiteten Förderung ein.