Ein wichtiger Bestandteil eines diagnosegeleiteten sowie förderorientierten Unterrichts ist das Führen von Diagnose- und Fördergesprächen. Schriftliche Dokumente können nicht immer alle mathematischen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern widerspiegeln und sind deshalb nicht in allen Situationen hinreichend aussagekräftig. Oftmals können Kinder ihre Entdeckungen aufgrund unbekannter Fachwörter nicht verschriftlichen oder haben Probleme einen mathematischen Sachverhalt so darzustellen, wie sie ihn verstanden haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihnen die zur Bearbeitung einer Aufgabenstellung benötigten mathematischen Fähigkeiten fehlen.

Um diese Kompetenzen zu diagnostizieren und darauf aufbauend differenziert und zielführend fördern sowie flexibel auf die Entwicklung des Kindes eingehen zu können, ist es wichtig, an geeigneten Stellen Diagnose- und Fördergespräche zu führen.
Als Unterstützung zur praktischen Durchführung solcher Gespräche, lassen sich zehn Leitprinzipien (vgl. Selter & Spiegel, 1997) formulieren:

 

Zehn Leitprinzipien zum Führen von Diagnose- und Fördergesprächen

  1. zielgerichtete Flexibilität
    • Ausgehend vom jeweiligen Erkenntnisinteresse wird im Vorfeld ein flexibel zu handhabender Ablaufplan (s. ‚Zur Illustration‘) erstellt. Dieser enthält wichtige Leitfragen sowie einzubringende Impulse und dient als Orientierung für den Ablauf des Gesprächs.
  2. angenehme Gesprächsatmosphäre
    • Um eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu erreichen sollte nicht direkt mit der eigentlichen Diagnose bzw. Förderung begonnen werden. Sinnvoll ist es, an Ereignisse aus dem Unterricht oder dem Alltag des Kindes anzuknüpfen. Eingangs werden Aufgaben gewählt, die das Kind vermutlich richtig lösen kann. Um diese Atmosphäre weiter aufrechtzuerhalten, sollten negative Bewertungen vermieden werden. So wird das Kind in seinen Kompetenzen bestärkt. Wenn es sich in einem Zustand befindet, in dem konzentriertes Arbeiten nicht mehr möglich ist, sollte das Gespräch vorzeitig abgebrochen werden.
  3. Transparenz
    • Um Transparenz hinsichtlich der Absicht zu erzeugen, muss dem Kind erklärt werden, warum es befragt wird („Du wirst jetzt nicht geprüft, sondern es geht darum, dass ich von Dir lernen möchte, wie Kinder denken, was sie alles schon können und wo sie Schwierigkeiten haben.“). Insgesamt sollte darauf geachtet werden, dass möglichst wenige Fremdwörter und erwachsenentypische Satzkonstruktionen zur Verwendung kommen. Sollte das Kind Verständnisschwierigkeiten zeigen, bietet es sich an, Aussagen zu wiederholen oder zu umschreiben.
  4. Herausforderung statt Belehrung
    • Der Rede- und Erklärungsanteil sollte auf ein Mindestmaß reduziert werden, da es nicht darum geht, konkrete Vorgehensweisen zu erklären, sondern herausfordernde Fragen zu stellen. Diese Fragen sollen das Kind anregen, möglichst viel über seine Gedanken zu sprechen. Dabei ist es wichtig, dem Kind nicht den eigenen Standpunkt aufzudrängen, auch wenn es im Sinne des „Beibringens“ oder „Helfen-Wollens“ gedacht ist.
  5. Annahme von Rationalität
    • Kinder rechnen und denken häufig anders als Erwachsene oder als von ihnen erwartet wird (vgl. Spiegel & Selter, 2003). Auch falsche, ungeschickte oder unverständliche Antworten können authentische Ausdrucksformen seiner Denkprozesse sein. „Fehlerhafte Äußerungen“ sollten also nicht unmittelbar berichtigt werden, stattdessen sollte das Kind die Möglichkeit haben, auszureden. Auch Lehrkräfte müssen nicht alle Kinderantworten sofort verstehen. Falls etwas unverständlich ist, kann dies dem Kind gegenüber eingestanden und um nochmalige Erklärung gebeten werden.
  6. Erzeugung von kognitiven Konflikten
    • Bei falschen oder unvollständigen Antworten reicht es oft aus, durch eine geeignete Nachfrage einen Widerspruch zwischen der Antwort des Kindes und dem, was es wissen bzw. erkennen kann, zu erzeugen. Sog. „kognitiven Konflikte“ müssen in der Regel von der Lehrkraft erzeugt werden und können auch bei „richtigen“ Antworten dazu dienen, das Denken des Kindes herauszufordern. Das Problem besteht allerdings darin, dass ein Widerspruch, den ein Erwachsener sieht, von Kindern nicht notwendigerweise als solcher verstanden werden muss.
  7. Entdeckung der Langsamkeit
    • Diagnose- und Fördergespräche erfordern viel Geduld beim Zuhören und Beobachten. Pausen bedeuten nicht zwingend, dass das Kind nicht geistig aktiv ist. Vorschnelle Erklärungen oder Eingriffe könnten den Denkprozess des Kindes empfindlich stören. Es muss also gelernt werden, Pausen auszuhalten und das Gefühl, dass das Gespräch stockt, zumindest für eine Weile zu unterdrücken.
  8. Achtung vor Gesprächsroutinen
    • Mit der Zeit entwickeln sich unbewusste, in anderen Zusammenhängen erworbene Gesprächsroutinen, wie beispielsweise die Annahme eines Kindes, etwas Falsches gesagt zu haben, wenn ein Erwachsener genauer nachfragt. Sagt die Lehrkraft wiederum nichts, so vermutet es, dass das Gesagte richtig war. Dieser Gesprächsroutinen sollte man sich bewusst sein und zudem versuchen zu vermeiden, dass das Kind zu stark von Ihren Reaktionen gesteuert wird. Es besteht sonst die Gefahr, dass es lediglich das sagt, was seiner Meinung nach von ihm erwartet wird.
  9. Relativität der Informationen
    • Lösungswege verständlich zu erklären, kann auch für Erwachsene eine große Herausforderung darstellen. Daher können auch Kinder manchmal keine genaue Auskunft geben oder eine Äußerung so formulieren, die den ursprünglichen Lösungsweg exakt wiedergibt.
      Zudem ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass eigene Interpretationen immer vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen getätigt werden.
  10. Reflexion des Gesprächs
    • Bei der Reflexion der Gespräche sollte beachtet werden, dass die Leistungen der Kinder stets situationsabhängig sind. Eine Leistung, die sie in einer bestimmten Situation nicht zeigen, können sie unter anderen Umständen durchaus preisgeben. Bei der Analyse sollten demnach nicht nur die Antworten und Handlungen, sondern auch die Bedingungen und der Verlauf des Gesprächs – dabei insbesondere auch das Verhalten der Lehrkraft – kritisch reflektiert werden.
Neben vielen Gemeinsamkeiten beider Gesprächsarten wie beispielsweise einer kompetenzorientierten Grundhaltung (vgl. ‚Diagnose- und Fördermomente‘, s. auch Wartha & Schulz, 2012), die als Voraussetzung für eine diagnosegeleitete Förderung gilt, ist aufgrund der differenzierten Zielsetzung, die der Lehrende während des Gesprächs verfolgt, eine Unterscheidung notwendig.

Diagnosegespräche lassen sich auf die Methode des sog. klinischen Interviews nach Piaget zurückführen. Nähere Informationen zu klinischen Interviews sind bei KIRA: Diagnose – Diagnostische Gespräche zu finden. Ziel ist es, das authentische Denken von Kindern (vgl. Spiegel & Selter, 2003) möglichst genau nachzuvollziehen, wodurch Rückschlüsse zu Lernstand und zu den Denkweisen der Lernenden gezogen werden können. „In der Diagnose sollen die Kompetenzen des Kindes (kompetenzorientiert) ermittelt werden, also die sichere Grundlage, an die in Fördersituationen angeknüpft werden kann“ (Wartha & Schulz, 2012, S.21).

Dahingehend liegt der Schwerpunkt von Fördergesprächen darauf, die Lernenden dazu anzuregen einen Lernzuwachs zu erzielen (vgl. Selter, 2017). Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch in Fördergesprächen immer Rückschlüsse auf den Lernstand und die Denkprozesse der Kinder gezogen werden, die Lehrkraft also auch hier diagnostisch tätig bleibt. Die folgende Übersicht (Selter, 2017, S.391) fasst die Unterschiede beider Gesprächsarten zusammen:
 
  Diagnosegespräch Fördergespräch
Ziel Denkwege verstehen Lernfortschritte ermöglichen
Aufgabenstellung soll bearbeitet werden soll richtig gelöst werden
Erklärungen weitestgehend vermeiden, nur
Aufgabenverständnis sichern
im Bedarfsfall notwendig, bedürfen aber der aktiven Einordnung ins
bestehende Wissensnetz
Fragen und Impulse dienen der Auslotung des
Verständnisses
dienen der aktiven Entwicklung des Verständnisses
Hilfen als Unterstützung zum Darstellen der eigenen Denkwege als Unterstützung zum Selbstfinden von Erkenntnissen
Fehler können stehen bleiben sollen analysiert und überwunden
werden
Hauptaktivität Lehrpersonen „innehalten“, beobachten und
zuhören
aktiv zu Lernfortschritten anregen
Hauptaktivität Lernende Denkwege erklären neue Denkwege einschlagen
Rückmeldung lernstandsorientiert lernprozess- und sachorientiert
Tabelle 1: Unterschiede von Diagnose- und Fördergesprächen
 

Auch wenn beide Gesprächsformen klare Unterschiede aufweisen, ist festzuhalten, dass sie in der Unterrichtsrealität häufig eng aufeinander folgen bzw. sich auch vermischen können. Als Lehrperson sollte man sich deshalb bewusst sein, ob man in der konkreten Situation eher die Intention des Diagnostizierens oder die des Förderns verfolgt (vgl. Selter, 2017). Nachfolgend werden deshalb Hinweise zur Durchführung und Reflexion separat formuliert.
 

Hinweise zur Durchführung und Reflexion von Diagnosegesprächen

Als Unterstützung zur praktischen Durchführung von Diagnosegesprächen können folgende Planungsschritte dienen:

Planungsschritte zur Vorbereitung auf Diagnosegespräche

  1. Schwerpunkte setzten und Inhalte festlegen
    • Auf Grundlage von Beobachtungen und schriftlichen Dokumenten des Kindes werden Schwerpunkte (z.B. „Ordinales und kardinales Zahlverständnis“) gesetzt und dazu mögliche passende Inhalte (z.B. Zählaktivitäten oder Übungen zur Anzahlerfassung) festgelegt. Diese Inhalte sollten sich auf wichtige „Hürden im Lernprozess" beziehen (Schipper, Wartha & v. Schroeders, 2011).
  2. Aufgaben und Material auswählen
    • Daraufhin werden konkrete Diagnoseaufgaben (vgl. ‚Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben’) sowie das entsprechende Anschauungs- und Darstellungsmaterial (z.B. Rechenrahmen) entsprechend des diagnostischen Schwerpunkts ausgewählt.
  3. Ablauf planen
    • Um den Ablauf zu planen und Beobachtungen während des Gesprächs zu notieren, eignen sich Vorlagen, in denen beispielsweise die konkrete Aufgabenstellung oder die Beobachtungsschwerpunkte notiert werden können (s. ‚Zur Illustration‘).
  4. Zielgerichtet und förderorientiert diagnostizieren
    • Das Ziel des Gesprächs ist es, Kompetenzen aber auch Schwierigkeiten zu ermitteln. Da diese sich erst im Laufe des Gesprächs genauer abzeichnen, kann es sein, dass Frage- oder Aufgabenstellungen spontan adaptiert oder bestimmte Übungen vorzeitig abgebrochen werden müssen. An welchen Stellen dies der Fall sein könnte, sollte im Vorfeld bedacht werden.
Der meist dreiteilige Ablauf eines Diagnosegesprächs sollte mit einem kleinen Einstieg, einem „Warm-up“ (s. Leitprinzip ‚Angenehme Gesprächsatmosphäre‘) beginnen, welches je nach Zeit und Bedürfnis der Lernenden durchgeführt werden kann. Da der Schwerpunkt auf den Diagnoseaufgaben liegt, wird im Anschluss fließend dahin übergeleitet. Entsprechend einer Einführung gibt es auch am Ende einen Abschluss, welcher genutzt werden kann, um mit dem Kind das Gespräch zu reflektieren, die Bereitschaft zur Mitarbeit wertzuschätzen oder einen Ausblick auf die Förderung zu geben.

1. Warm-up (z.B. Begrüßung, Ritual, Mathespiel, offene Aufgabe,...)
2. Diagnoseaufgaben
3. Abschluss (z.B. Ritual, Spiel, Verabschiedung,...)

Um die Diagnoseaufgaben (s. Punkt 2, vgl. ‚Diagnose- und Förderaufgaben’) im Vorfeld auszuwählen, sinnvoll zu strukturieren und sich während des Gesprächs oder im Nachhinein Anmerkungen machen zu können, ist es hilfreich, eine Notation des mathematischen Inhalts, der geforderten Kompetenz und einer beispielhaften Aufgabenstellung vorzunehmen. Wie ein möglicher Leitfaden, auf dem zudem Beobachtungsschwerpunkte und Anmerkungen festgehalten werden können, aussehen kann, zeigt das Illustrationsbeispiel.
 
Weitere detaillierte Informationen zur Gesprächsführung (Planung, Durchführung und Auswertung von diagnostischen Gesprächen) sowie mögliche Stolpersteine finden sich KIRA: Diagnostische Gespräche.

 

Hinweise zur Durchführung und Reflexion von Fördergesprächen

Auch wenn es darum geht, innerhalb eines Fördergesprächs Lernfortschritte anzuregen und neue Denkwege einzuschlagen (vgl. Selter, 2017) ist das Gespräch dem Lernen durch Entdecken (vgl. Winter, 2015) verpflichtet. Mit dem Anregen von Lernfortschritten ist demnach nicht gemeint, den Lernenden etwas „beizubringen“ und ihnen dabei den eigenen Denkweg als den bestmöglichen aufzudrängen. Es geht vielmehr darum, durch bewusste Impulse und Fragestellungen das Kind in Abhängigkeit der individuellen Denkwelten zu mathematischen Entdeckungen herauszufordern und somit individuelle Lernfortschritte zu initiieren.

Als Unterstützung zur praktischen Durchführung von Fördergesprächen können folgende Planungsschritte dienen:

Planungsschritte zur Vorbereitung auf Fördergespräche
  1. Schwerpunkte setzen und Inhalte festlegen
    • Ein konkretes Förderziel (z.B. „Förderung des Stellenwertverständnisses durch Bündelungsaktivitäten“) wird für das Gespräch festgelegt.
  2. Aufgaben und Material auswählen
    • Daraufhin wird eine geeignete (substantielle) Aufgabe sowie das entsprechende Anschauungs- und Darstellungsmaterial (z.B. Mehrsystemblöcke) ausgewählt. Diese werden sinnvoll auf die konkrete Zielsetzung abgestimmt.
  3. Ablauf planen
    • Um den Ablauf zu planen, eignen sich Vorlagen, in denen beispielsweise die konkrete Aufgabenstellung oder das benötigte Material notiert werden kann (s. ‚Zur Illustration‘).
  4. Zielgerichtet und diagnosegeleitet fördern
    • Ziel von Fördergesprächen ist die individuelle Förderung des Kindes zur bestmöglichen Potenzialentfaltung, was voraussetzt, dass weitere konkrete Fördervorhaben erst nach einer durchgeführten Fördersitzung festgelegt werden können. Um sich möglichst an der Entwicklung des Kindes zu orientieren und eine gezielte Förderung zu ermöglichen, sollte die Lehrkraft auch weiterhin diagnostisch tätig sein.
Der Ablauf eines Fördergesprächs kann dem eines Diagnosegesprächs angepasst werden. Beginnend mit einer kleinen Einführung in Form eines Spiels, Rituals etc. wird auch hier fließend zu den Förderaufgaben übergeleitet, da diese den Schwerpunkt des Fördergesprächs bilden sollten. Auch ein Abschluss ist beim Fördergespräch sinnvoll.
 
1. Warm-up (z.B. Begrüßung, Ritual, Mathespiel, offene Aufgabe, …)
2. Förderaufgaben (ca. 2-5 Sequenzen, je nach Komplexität)
3. Abschluss (z.B. Ritual, Spiel, Verabschiedung, …)

Um die geplanten Förderaufgaben (s. Punkt 2; vgl. ‚Diagnoseaufgaben und Förderaufgaben‘) im Vorfeld sinnvoll zu strukturieren und sich während des Gesprächs oder im Nachhinein Anmerkungen machen zu können, ist es hilfreich, inhaltliche und organisatorische Elemente sowie die Reflexion des Gesprächs zu protokollieren. Diese Notizen können mit Hilfe eines Leitfadens strukturiert und als Unterstützung zur Planung weiterer Fördervorhaben genutzt werden. Das Illustrationsbeispiel zeigt, wie ein solcher Leitfaden aufgebaut werden könnte.
 
Wie aus den obigen Ausführungen deutlich hervorgeht, bringt das Führen von Diagnose- und Fördergesprächen vielfältige Vorteile mit sich. Ein Nachteil ist sicherlich der große Zeitaufwand, der für jedes einzelne Kind aufzubringen ist. Ein Einsatz dieser Methode (wenn auch nur dosiert) ist aufgrund der umfangreichen Erkenntnisse jedoch zu empfehlen. Gerade im Hinblick auf den inklusiven Unterricht, in dem verstärkt die Zusammenarbeit von Primarstufenlehrkraft und sonderpädagogischer Fachkraft genutzt werden sollte, bietet sich der Einsatz beider Gesprächsformen an. Beim Nutzen von unterrichtsintegrierten Fördermodellen kann der Organisations- und Zeitaufwand zudem erheblich reduziert werden (vgl. ‚Unterrichtsorganisation‘).