Ergebnisse diagnostischer Erhebungen sollten genutzt werden, um passende Förder- und Unterstützungsangebote für ein Kind oder einen Jugendlichen machen zu können. Je nach Problemlage und nach pädagogischer Zielsetzung können zwei grundlegende diagnostische Vorgehensweisen gewählt werden, um den aktuellen Entwicklungsstand einer einzelnen Schülerin oder eines einzelnen Schülers zu erfassen:

  1. Im Rahmen von Prozessdiagnostik im Unterricht soll der Entwicklungs- oder Lernverlauf (z. B. beeinflusst durch eine Intervention oder Fördermaßnahme) bei Einzelpersonen erfasst werden. Daher finden bei diesem Vorgehen im Gegensatz zur Statusdiagnostik häufigere Erhebungen im zeitlichen Verlauf statt.
  2. Im Rahmen der Statusdiagnostik soll der aktuelle Lern- und Entwicklungsstand von einzelnen oder mehreren Schülerinnen und Schülern (z. B. zur Planung von Unterstützungsangeboten) zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt werden. Deshalb finden bei diesem Vorgehen eine oder mehrere einander ergänzende Erhebungen zu einem Zeitpunkt bzw. in einem engen zeitlichen Rahmen statt.


Die Überprüfung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung stellt ein Beispiel für Statusdiagnostik dar. Hierbei wird die Situation einer Schülerin oder eines Schülers zu einem bestimmten Zeitpunkt möglichst umfassend erfasst, bei der oder dem (z. B. aufgrund von informellen Beobachtungen, dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, des Lern- bzw. Entwicklungsstands) ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung vermutet wird. Die Feststellung eines Bedarfs kann je nach Ausprägung an eine zusätzliche Zuweisung von Ressourcen gekoppelt sein, um die notwendige Unterstützung leisten zu können.

Die einmalige Durchführung des FEESS 3-4, eines „Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen“ (Rauer & Schuck, 2004), stellt ein Beispiel für Statusdiagnostik in einer Gruppe dar. Sie kann sinnvoll sein, falls die Klassenlehrkraft die Vermutung hat, dass z. B. aktuell etwas mit dem Klassenklima nicht stimmt. Die Durchführung eines solchen Instruments im Rahmen der Statusdiagnostik erlaubt den Vergleich der Situation in der Klasse mit den Daten einer Normstichprobe und damit eine objektivere Beurteilung der Ergebnisse. Aufbauend darauf könnten bei Bedarf das pädagogische Handeln der Lehrkraft bzw. die Klassensituation angepasst werden.

Im Folgenden wird zunächst auf Möglichkeiten der Diagnostik zur Planung von Unterstützungsangeboten im Unterricht eingegangen. In diesem Rahmen werden einige diagnostische Verfahren vorgestellt, die sich im Unterricht nutzen lassen, bevor abschließend Informationen über die Diagnostik zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich emotionale und soziale Entwicklung im Fokus stehen.


In diesem Teilmodul können Sie sich über Diagnostik im Bereich des Erlebens und Verhaltens in Schule und Unterricht informieren. Ausführungen zur fachlich und fachdidaktisch orientierten Diagnostik im Mathematikunterricht finden Sie unter der Leitidee diagnosegeleitet fördern.


Diagnostik zur Planung von Unterstützungsangeboten im Unterricht

Je nach Fragestellung und pädagogischer Zielsetzung ist es sinnvoll, sich für das eine oder andere diagnostische Vorgehen zu entscheiden. Dabei können z. B. Gespräche, mehr oder minder systematische Beobachtungen oder auch standardisierte Testverfahren zum Einsatz kommen (Hesse & Latzko, 2019).

Gespräche

Informelle oder formelle Gespräche mit den Kindern oder Jugendlichen und/oder ihren jeweiligen Erziehungsberechtigten können dazu beitragen, dass die Lehrkraft die Gesamtsituation, in der die Schülerin oder der Schüler aufwächst, und damit möglicherweise auch das jeweilige Verhalten, besser verstehen kann. Gespräche können zudem helfen, bestehende Ressourcen als mögliche Ansatzpunkte für die pädagogische Arbeit zu erkennen (vgl. Bedingungsfaktoren). Die in Gesprächen gewonnenen Erkenntnisse sollten als Grundlage genutzt werden, um Förder- und Unterstützungsbemühungen der jeweiligen Situation anzupassen, was wiederum die Erfolgsaussichten pädagogischer Bemühungen erhöhen dürfte.

Gespräche, die über das Alltägliche hinausgehen, sollte die Lehrkraft im Vorfeld gut vorbereiten. Sie sollte z. B. den Gesprächspartnern klar und verständlich erläutern, welches Ziel mit dem Gespräch verfolgt wird. Eine wertschätzende Haltung der Lehrkraft, die das jeweilige Gegenüber in seinem Erleben der Wirklichkeit verstehen will, und gegenseitiges Zuhören können zu einer positiven Gesprächsatmosphäre beitragen und dabei helfen, die eigene Position in einer Art und Weise zu vertreten, dass möglichst keine Kränkungen hervorgerufen werden. Reagiert die Gesprächspartnerin oder der Gesprächspartner dennoch ausfallend oder aggressiv, sollte die Lehrkraft dies nicht persönlich nehmen, sondern als Ausdruck der Emotionen des Gegenübers sehen.

In Gesprächen sollten kleine, konkrete und erreichbare Ziele vereinbart und bei Bedarf schriftlich festgehalten werden. Diese können wiederum als Grundlage für ein nächstes Gespräch dienen. Für eine gute weitere Zusammenarbeit sollte darauf geachtet werden, dass alle Beteiligten mit klaren Vorstellungen über die gemeinsamen Ziele und einer konkreten Idee, was sie zum Erreichen beitragen können, sowie einem guten Gefühl aus dem Gespräch herausgehen.


Hilfreiche Tipps für die Durchführung von (Beratungs-)Gesprächen im schulischen Kontext, finden sich u. a. in den folgenden Veröffentlichungen:

Hennig, C. & Ehinger, W. (2016). Das Elterngespräch in der Schule. Von der Konfrontation zur Kooperation (8. Auflage). Augsburg: Auer.

Melzer, C. & Methner, A. (2012). Gespräche führen mit Kindern und Jugendlichen. Methoden schulischer Beratung. Stuttgart: Kohlhammer.

Auch bei Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs (siehe AO-SF) oder bei der Entwicklung eines Förderplans stellen Gespräche mit den Lernenden und ihren Erziehungsberechtigten und ggf. mit weiteren Personen, die mit dem jeweiligen Kind oder Jugendlichen betraut sind, relevante Informationsquellen dar.

Wie sich diagnostische Gespräche über mathematische Begriffe und Verfahren gestalten lassen, erfahren Sie in der Leitidee diagnosegeleitet fördern unter Diagnose- und Fördergespräche.


 Systematische Verhaltensanalyse

Fällt einer Lehrkraft auf, dass in einer spezifischen Situation eine bestimmte Schülerin oder ein bestimmter Schüler immer wieder herausfordernde Verhaltensweisen zeigt, kann eine systematische Analyse dieser und ähnlicher Situationen helfen, Erkenntnisse darüber zu erlangen, welche Ereignisse oder situativen Bedingungen die herausfordernden Verhaltensweisen ausgelöst haben könnten (die sog. Antezedenzien) und welche situativen Bedingungen das herausfordernde Verhalten möglicherweise aufrechterhalten oder sogar verstärken (vgl. Narciss, 2011).

Zur Durchführung einer systematischen Verhaltensanalyse bietet sich als theoretische Grundlage ein Modell von Kanfer und Philipps (1975) an, das in fünf Analyseschritten fünf Komponenten verfolgt:

  1. Reaktion: Zu Beginn steht die Beschreibung eines spezifischen Verhaltens einer Person im Zentrum der Betrachtung. Im Unterricht könnte das eine unangemessene Verhaltensweise sein, wie z. B. störende Zwischenrufe eines Kindes.
  2. Organismus: Dieses Verhalten wird von einer Person gezeigt, die über individuelle Eigenschaften, Verhaltensmöglichkeiten, Vorerfahrungen, Emotionen etc. verfügt, die es im zweiten Analyseschritt zu berücksichtigen gilt. In unserem fiktiven Unterrichtsbeispiel vom häufig dazwischenrufenden Kind könnte es sich z. B. um ein Mädchen oder einen Jungen handeln, die oder der zu Hause und im Schulalltag wenig Aufmerksamkeit bei Kindern und Erwachsenen findet.
  3. Stimulus: Die unangemessene Verhaltensweise tritt unter bestimmten Bedingungen auf und wird meistens durch bestimmte Reize (Stimuli) ausgelöst, die genau analysiert werden müssen. Im Erkennen auslösender Reize kann ein Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens einer Person liegen. In unserem Unterrichtsbeispiel könnte z. B. die von dem Kind als ungerecht empfundene Behandlung - das Nichtaufrufen durch die Lehrkraft trotz Meldung - ein Auslöser für die störenden Zwischenrufe sein.
  4. Konsequenz: Hinzu kommt in der Logik der systematischen Verhaltensanalyse die Annahme, dass das Verhalten einer Person durch bestimmte Konsequenzen aufrechterhalten oder verstärkt wird. Im Unterricht könnte das unangemessene Verhalten z. B. dadurch aufrechterhalten oder verstärkt werden, dass das Kind auf diese Weise Beachtung erfährt und ein individuelles Bedürfnis nach Zuwendung befriedigen kann – unabhängig davon, ob die anderen Kinder oder die Lehrkraft positiv oder negativ reagieren.
  5. Kontingenz: In einem letzten Schritt geht es darum festzustellen, welche nachvollziehbar immer wieder auftretende Beziehung zwischen spezifischen situativen Bedingungen und spezifischen unangemessenen Verhaltensweisen sowie zwischen dem Verhalten und den aus dem Verhalten resultierenden Konsequenzen bestehen, die wiederum zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung des Verhaltens beitragen.

Fallbeispiel aus dem Mathematikunterricht:

Mit dem Vorrechnen an der Tafel hat eine Schülerin schlechte Erfahrungen gemacht, weil die Aufgabe zu schwer war. Sie hat durch die abwertende Reaktion der Lehrkraft und das Lachen der Mitschülerinnen und Mitschüler das Gefühl gehabt, bloßgestellt zu werden. Auf Grund dieser Erfahrung hat das Mädchen zukünftig bereits vor dem Mathematikunterricht Angst, zum Vorrechnen aufgefordert und erneut bloßgestellt zu werden. Es legt nun, um die gefürchtete Situation zu vermeiden, absichtlich in der Pause vor der Mathematikstunde massiv herausfordernde Verhaltensweisen an den Tag, weil es dann die Mathestunde im Trainingsraum verbringen kann oder muss und der unangenehmen Leistungsanforderung und ihren befürchteten Konsequenzen entgehen kann (siehe z. B. auch das Fallbeispiel René im Einstieg).


Anders als im Fallbeispiel gezeigt, kann es auch vorkommen, dass ein Kind oder ein Jugendlicher regelmäßig im Mathematikunterricht herumalbert, um die Bewunderung seiner Peers zu erlangen oder kurz vor der Hausaufgabenkontrolle herausforderndes Verhalten zeigt, damit die Lehrkraft nicht dazu kommt, die möglicherweise nicht erledigten Aufgaben zu kontrollieren – denn dann könnte eine entsprechende Mitteilung nach Hause erfolgen und dort drohen massiven Konsequenzen der strengen Eltern. Alldem kann der Schüler durch Störverhalten entgehen.

Da herausfordernde Verhaltensweisen meist erst dann auffallen, wenn sie bereits gezeigt wurden, kann es schwierig sein, die auslösenden Faktoren systematisch zu analysieren. Dies gilt auch und insbesondere für den Unterrichtsalltag, denn Lehrkräfte haben währenddessen zahlreichen Aufgaben nachzukommen. Möglicherweise kann eine Kollegin oder ein Kollege bei der systematischen Verhaltensanalyse helfen. Wenn mögliche Auslöser für ein spezifisches herausforderndes Verhalten sowie aufrechterhaltende oder verstärkende Faktoren identifiziert sind, kann die Lehrkraft gezielt an diesen Faktoren ansetzen und versuchen, die Situation für alle Beteiligten positiver zu gestalten und die Auftretenswahrscheinlichkeit des bislang gezeigten herausfordernden Verhaltens zu verringern. Auch das Aufzeigen und Einüben angemessenerer Verhaltensalternativen kann hilfreich sein, um zu einer Entspannung der Unterrichtssituation beizutragen.

Systematische Verhaltensbeobachtung zur Diagnose von Entwicklungsverläufen oder zur Evaluation von pädagogischen Maßnahmen

Nachdem im Rahmen einer Statusdiagnostik (z. B. durch eine systematische Verhaltensanalyse) eine problematische Verhaltensweise sowie die dem Verhalten zugrundeliegenden Zusammenhänge identifiziert wurden, bietet es sich an, den weiteren Entwicklungsverlauf zu beobachten bzw. eine geeignete pädagogische Fördermaßnahme umzusetzen und zu evaluieren. In beiden Fällen könnte die systematische Verhaltensbeobachtung zum Einsatz kommen. Eine entscheidende Voraussetzung hierfür ist die sog. Operationalisierung: Das Verhalten, das im Fokus der Beobachtung stehen soll, wird möglichst präzise beschrieben und somit beobachtbar und messbar gemacht. Abhängig von der zu messenden Verhaltensweise bzw. dem Ziel der Förderung können die Form, die Häufigkeit, die Dauer oder auch die Intensität eines Verhaltens relevante Beobachtungskriterien sein. Die Genauigkeit der Ergebnisse ist in starkem Maße abhängig von der Operationalisierung des zu beobachtenden Verhaltens sowie der Qualität der Beobachtungen.

Für eine systematische Beobachtung bietet sich die Nutzung von speziellen Zeitrastern an. Beim Beobachten in Intervallen (engl. Partial Interval Recording) wird der Beobachtungszeitraum (z. B. 45 Minuten) in Zeitintervalle (von z. B. je 1 Minute) eingeteilt und es wird festgehalten, in welchen der Intervalle das spezifische Verhalten gezeigt bzw. nicht gezeigt wurde. Die Phasen mit bzw. ohne das Vorkommen des spezifischen Verhaltens können dann ins Verhältnis gesetzt werden, so dass die Ergebnisse aus verschieden lang andauernden Beobachtungszeiträumen (z. B. spezifische Arbeitsphasen) vergleichbar werden.


Fallbeispiel:

Während der täglichen Stillarbeitsphase im Mathematikunterricht, in der alle Schülerinnen und Schüler an wiederholenden Übungsaufgaben arbeiten, sucht Thomas oft die Aufmerksamkeit seiner Mitschülerinnen und Mitschüler, anstatt sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Durch sein Verhalten fehlt es ihm an Übung und er hat, anders als die meisten anderen Kinder, Schwierigkeiten, die Ergebnisse des 1x1 automatisiert abzurufen, daher macht er oft Fehler.

Die Lehrkraft und Thomas stellen fest, dass ihm das wiederholende Üben zwar keine Freude bereitet, es aber wohl erledigt werden muss, um die Aufgaben des 1x1 zukünftig automatisiert und korrekt abrufen zu können. Sie vereinbaren, dass Thomas jedes Mal einen Stempel bekommt, wenn er die acht Minuten, die die Stillarbeitsphase dauert, konzentriert arbeitet bzw. sich nach Hinweis der Lehrkraft wieder unmittelbar seinen Aufgaben widmet. Sobald er fünf Stempel (sog. Token, vgl. Unterricht) erarbeitet hat, kann er sich zur Belohnung etwas Kleines aus einer Wunschbox aussuchen.

Um festzustellen, ob die pädagogische Maßnahme (Token-Verfahren als Belohnungssystem) die gewünschte Wirkung zeigt, führt die Lehrkraft in der Stillarbeitsphase systematische Beobachtungen von Thomas‘ Arbeitsverhalten durch. In diesem Beispiel könnte die Zunahme der Zeit, in der Thomas konzentriert an seinen Übungsaufgaben arbeitet, oder die Abnahme ablenkender Verhaltensweisen im Fokus der systematischen Beobachtung stehen. In einer zusätzlichen Lernverlaufsdiagnostik könnte darüber hinaus seine Leistungssteigerung im Bereich des kleinen 1x1 erhoben werden.


Eine systematische Verhaltensbeobachtung bietet sich ebenfalls an, um die eigenen subjektiven Eindrücke als Lehrkraft anhand möglichst objektiver Kriterien zu überprüfen. Wenn z. B. bei einer Lehrkraft im Unterrichtsalltag der Eindruck entstanden sein sollte, dass eine bestimmte Schülerin oder ein bestimmter Schüler ständig stört oder abgelenkt ist, kann sich unter Umständen zeigen, dass es sich eher um eine subjektive Wahrnehmung handelte und das tatsächlich gezeigte Verhalten der Schülerin oder des Schülers nicht in dem wahrgenommenen Ausmaß auftritt.


Hinweise, wie bei einer systematischer Verhaltensbeobachtung vorgegangen werden kann, finden sich in zwei Arbeitshilfen auf der Webseite des Schulamtes für den Kreis Kleve:

  • Grundlagen und Arbeitshilfen zur systematischen Verhaltensbeobachtung
  • Beobachtungs- und Auswertungsbögen für die Verhaltensbeobachtung

https://www.kreis-kleve.de/de/inhalt/arbeitshilfen/

Weitere Information zu verschiedenen Formen und Möglichkeiten der Dokumentation systematischer Beobachtungsdaten sowie Ideen zum Einsatz in der Praxis finden sich z. B. bei Fiske und Delmolino (2012) und auf einer Webseite der University of Kansas unter http://www.specialconnections.ku.edu/?q=assessment/data_based_decision_making/teacher_tools/partial_interval_recording


Standardisierte diagnostische Verfahren

Neben gering oder nicht standardisierten Vorgehensweisen (wie z. B. informellen Gesprächen oder unsystematischen Beobachtungen) spielen auch standardisierte diagnostische Testverfahren im Kontext der emotionalen und sozialen Entwicklung von Schülerinnen und Schülern eine wichtige Rolle. Solche Testverfahren werden u. a. von hierfür ausgebildeten Förderlehrkräften im Rahmen eines Verfahrens zur Feststellung eines sonderpädagogischen Bedarfs an Unterstützung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung genutzt, um Informationen darüber zu erlangen, wie ein bestimmtes Merkmal (z. B. Ängstlichkeit, Aggressivität oder Hyperaktivität) bei einer Schülerin oder einem Schüler im Vergleich zu einer Altersnorm ausgeprägt ist.

Auch Lehrkräfte, die keine spezifische diagnostische Ausbildung haben, können verschiedene (standardisierte) Testverfahren im Schulalltag einsetzen und auswerten, um aus den Ergebnissen hilfreiche Hinweise für die Planung und Anpassung des Unterrichts, der Sitzordnung in der Klasse oder spezifischer Förder- oder Unterstützungsmaßnahmen für eine Lerngruppe oder für einzelne Schülerinnen und Schüler zu erhalten. Im Folgenden werden fünf solcher Verfahren skizziert, aus deren Ergebnissen sich auch Rückschlüsse für die Gestaltung des Mathematikunterrichts ziehen lassen.

Soziometrische Erhebung

Durch eine soziometrische Erhebung können Lehrkräfte auf relativ ökonomische Art und Weise einen aktuellen Überblick über die sozialen Netzwerke in einer Lerngruppe und die soziale Integration der einzelnen Kinder oder Jugendlichen erlangen, um z. B. mögliche Zu- und Abneigungen zwischen den Schülerinnen und Schülern bei der Planung der Sitzordnung oder für die Arbeit in Zweierteams oder Gruppen berücksichtigen zu können.

Eine soziometrische Erhebung kann auch im Mathematikunterricht durchgeführt werden. Alle Schülerinnen und Schüler beantworten schriftlich oder in Einzelgesprächen mit der Lehrkraft altersgemäße Fragen zu sozialen Präferenzen und Ablehnungen in der Klassengruppe, wie

  • „Neben welchen Kindern möchtest du am liebsten sitzen?“
  • „Neben welchen Kindern möchtest du nicht so gern sitzen?“

Um ehrliche Aussagen zu erhalten, ist wichtig, dass alle Befragten wissen, dass ihre Angaben vertraulich behandelt werden. Die positiven und ablehnenden Nennungen geben sowohl einen Einblick in die individuelle Perspektive der einzelnen Schülerinnen und Schüler als auch einen Überblick darüber, wer besonders beliebt ist (häufige positive Nennung) oder in besonderem Maße sozial ausgegrenzt ist (häufige negative Nennung) bzw. wer wenig Beachtung findet (wenige Nennungen) und ob in der Klassengruppe insgesamt eher eine hohe oder nur eine niedrige soziale Integration anzunehmen ist (viele positive und relativ wenige negative Nennungen vs. insgesamt wenige oder relativ viele negative Nennungen).

Zur systematischen Darstellung bietet sich das Eintragen der Ergebnisse durch die Lehrkraft in eine sog. Soziomatrix an. Eine Soziomatrix ist ein Raster, in dem sich in den Zeilen und Spalten jeweils alle Namen aller Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe in gleicher (z. B. alphabetischer) Reihenfolge wiederfinden. Pro Frage werden in die Spalten bzw. Zeilen nun die Nennungen (z. B. mit einer 1) und Nicht-Nennungen (z. B. mit einer 0) eingetragen und am Ende aufsummiert. Die Summen am Ende der Spalte bzw. Zeile zeigen dann die Gesamtnennungen für jedes Klassenmitglied und für die Klassengruppe insgesamt an. Eine grafische Auswertung der sozialen Netzwerke durch Pfeildarstellung in einem sog. Soziogramm ist ebenfalls möglich.


Verschiedene Soziogramm-Editoren sind im Internet kostenfrei verfügbar, z. B. von Pabst (2008) unter https://www.pabst-software.de/doku.php?id=programme:soziogramm-editor:start

Weitere Informationen zur Soziometrie und Netzwerkanalyse sowie deren Durchführung in (inklusiven) Schulklassen sind bei Kulawiak (2015) oder Breuer-Küppers und Hintz (2018) zu finden.


SEVE - Schulische Einschätzung des Verhaltens und der Entwicklung

Der Fragebogen Schulische Einschätzung des Verhaltens und der Entwicklung von Hartke und Vrban (2012) kann im Schulalltag von Lehrkräften eingesetzt werden, um Schritt für Schritt einen systematischen Überblick über den aktuellen Entwicklungsstand bzw. das Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers zu erlangen. Bei diesem Verfahren wird das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen innerhalb und außerhalb des Klassenraums, im Umgang mit Materialien sowie in Arbeitsphasen oder sozialen Interaktionen erfasst. Darüber hinaus werden in Bezug auf den Entwicklungsstand einer Schülerin oder eines Schülers die Aspekte Interessen und Motivation, Emotionen und Selbstbild, Kognition, Motorik und Wahrnehmung sowie Sprache beurteilt, indem die Lehrkraft die jeweils individuelle Situation auf einer achtstufigen Skala einschätzt.

Für die Gestaltung des Mathematikunterrichts können die Ergebnisse des Fragebogens dazu beitragen, auf die individuellen Bedarfe in den beurteilten Lern- und Entwicklungsbereichen besser eingehen zu können, denn der Fragebogen ist Teil der Bücher von Hartke und Vrban (2012) bzw. Hartke, Blumenthal, Carnein und Vrban (2014), die ihren Fokus auf den Primar- bzw. Sekundarstufenbereich legen und aufbauend auf dem Fragebogen sehr konkrete Hinweise für pädagogische Handlungsmöglichkeiten in der Praxis geben. Die vorgeschlagenen pädagogischen Handlungsmöglichkeiten (z. B. im Umgang mit Herausforderungen, die aus Angst, Aggression oder einem noch schlecht ausgebildeten Arbeitsverhalten resultieren) können helfen, den Mathematikunterricht so zu strukturieren und zu gestalten, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler sowohl emotional und sozial als auch fachlich hiervon profitieren zu können.

LSL bzw. SSL

Die Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten bzw. die Schülereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten von Petermann und Petermann (2013; 2014) kann in allen Schulformen eingesetzt werden, um sowohl aus Perspektive der Lehrkraft als auch einzelner Schülerinnen und Schüler das (eigene) Sozial- und Lernverhalten zu beurteilen. Während die Version für Lehrkräfte für die Beurteilung von Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 19 Jahren genutzt werden kann, ist die Version für Kinder und Jugendliche erst für den Einsatz ab der vierten Klasse vorgesehen.

Hinsichtlich des Sozialverhaltens werden folgende Aspekte erfasst: Hilfsbereitschaft, Kooperation und Sozialkontakt, Selbstwahrnehmung und -kontrolle sowie (angemessene) Selbstbehauptung. In Bezug auf das Lernverhalten stehen die Aspekte Ausdauer, Anstrengungsbereitschaft, Konzentration sowie Sorgfalt und Selbständigkeit beim Lernen im Fokus. Ein besonderer Vorteil beider Verfahren liegt in der Möglichkeit, die Testergebnisse mit denen einer Normstichprobe zu vergleichen und einzuschätzen, inwiefern das Sozial- und Lernverhalten einzelner Kinder oder Jugendlicher bzw. einer Klasse vom Durchschnitt abweichen und ob sich eventuell Handlungsbedarfe und -möglichkeiten erkennen lassen.

Für den Mathematikunterricht können die Angaben zu bzw. von den jeweiligen Schülerinnen und Schülern dazu beitragen, die Gesamtplanung sowie die Umsetzung von Arbeitsphasen in Teams oder Gruppen entsprechend der Kompetenzen und Bedarfe der Lerngruppe sowie der einzelnen Lernenden so zu planen, dass z. B. niemand hinsichtlich der Sozialform oder den Anforderungen an das selbständige Lernen überfordert wird. Dies wiederum kann dem Auftreten herausfordernden Verhaltens vorbeugen.

FEESS 1-2 bzw. 3-4

Der Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern erster und zweiter bzw. dritter und vierter Klassen von Rauer und Schuck (2004; 2003) zielt darauf ab, die individuellen emotionalen und sozialen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Schulbesuch aus der Perspektive der Kinder zu erfassen. Auf altersentsprechenden Formularen machen die Schülerinnen und Schüler Angaben zum eigenen Fähigkeitsselbstkonzept sowie zur empfundenen sozialen Integration und zum sozialen Klima in der Klasse. Darüber hinaus ermöglicht der FEESS die Erfassung der Einstellung zur Schule, der Lernfreude, der Anstrengungsbereitschaft und des Gefühls von Angenommensein.

Der Einblick in die individuellen emotionalen und sozialen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler kann helfen, im Mathematikunterricht besser auf die individuellen Bedarfe einzugehen, indem z. B. spezifischer darauf Acht gegeben wird, einem Kind mit einem schwachen Fähigkeitsselbstkonzept oder gering ausgeprägter Lernfreude Aufgaben zu geben, die ihm helfen, sich im mathematischen Bereich als selbstwirksam zu erleben und dadurch die Lernfreude zu steigern.

MesK

Die Matrix emotionaler und sozialer Kompetenzen (QUA-LiS NRW, 2019) kann zur diagnostischen Begleitung von individuellen Entwicklungen im Schulalltag genutzt werden. Sie ist für den schulpraktischen Gebrauch entwickelt und ermöglicht die Erfassung von Kompetenzen einer Schülerin oder eines Schülers in drei Kompetenzbereichen: der Selbstkompetenz (Emotionsregulation, Impulskontrolle, Reflexionsfähigkeit), der Sozialkompetenz (soziale Orientierung, soziale Initiative, internalisierendes und externalisierendes Konfliktverhalten, Regelverhalten) und der Lernkompetenz (Lern- und Leistungsbereitschaft, Konzentration und Sorgfalt beim Lernen). Zu jedem Kompetenzbereich sind fünf kompetenzorientierte Entwicklungsstufen formuliert, auf denen sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler durch eine oder mehrere Lehrkräfte sowie durch die Schülerin oder den Schüler selbst beurteilen lassen (QUA-LiS NRW, 2019, S. 9).

Die Matrix soll den Lernenden, Erziehungsberechtigten und Lehrkräften eine Orientierung über mögliche Entwicklungsperspektiven bieten. Sie kann dabei helfen, strukturierte und konstruktive Gespräche zu führen, da die Items unterrichtsrelevant formuliert und geeignet sind, über Unterstützungsmaßnahmen ins Gespräch zu kommen bzw. solche Maßnahmen gemeinsam zu planen. Die Ergebnisse aus dem MesK können darüber hinaus in (interdisziplinären) Teams genutzt werden, um die jeweils individuelle Situation eines Kindes oder Jugendlichen sowie die jeweiligen Zielsetzungen, pädagogischen Maßnahmen und existierenden Ressourcen anhand derselben Merkmale zu erfassen, abzugleichen, zu diskutieren und zu evaluieren.


Wenn Sie sich die Matrix emotionaler und sozialer Kompetenzen (MesK) genauer ansehen möchten, finden Sie auf der Internetseite von QUA-LiS NRW ein interaktives Angebot und einen Satz von verlinkten Powerpoint-Folien, die geeignet sind, den Einstieg in das Instrumentarium zu erleichtern:

https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/inklusive-schulische-bildung/sonderpaedagogische-unterstuetzung/intensivpaedagogische-unterstuetzung/matrix-emotionaler-und-sozialer-kompetenzen-mesk/interaktive-matrix/index.html

Eine Publikation mit ausführlichen Erläuterungen und Fallbeispielen finden Sie zum Download unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/upload/Inklusion/mesk/broschuere_mesk.pdf


Diagnostik zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich emotionale und soziale Entwicklung

Ein Verfahren zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich emotionale und soziale Entwicklung wird in der Regel von den Erziehungsberechtigten beantragt. Im Rahmen des Überprüfungsverfahrens wird zum einen der individuelle Unterstützungsbedarf erfasst und zum anderen festgehalten, welcher Bildungsgang und welcher Ort der schulischen Förderung empfohlen wird.

Die Kultusministerkonferenz (KMK 2000, S. 11) weist darauf hin, dass der Förderbedarf auf Grundlage einer sogenannten Person-Umfeld-Analyse zu erheben sei, wobei „insbesondere die sozialen Fähigkeiten, die Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit, die emotionale Ausdrucksfähigkeit und die Fähigkeit, sich zu steuern, sowie das Selbstkonzept der Schülerin oder des Schülers vor dem Hintergrund der persönlichen Lebenssituation und der schulischen Anforderungen beschrieben“ werden.

Zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sollen laut KMK (2000, S. 11f) Informationen zu folgenden Aspekten zusammengetragen werden:

  • Stärken und Kräfte in der Person und in ihrem Umfeld,
  • individuelle Lebens- und Erziehungsumstände sowie die soziale Einbindung,
  • psychosoziale Grunderfahrungen und deren Entwicklung,
  • Formen der Klärung und Bewältigung aktueller Lern- und Lebenssituationen,
  • schulisches Umfeld, Beziehungen zu Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und anderen Personen,
  • allgemeiner Entwicklungs- und Leistungsstand, Wahrnehmung, Belastbarkeit, Ausdauer und Konzentration,
  • soziale, emotionale, motorische und kognitive Entwicklung in schulischen Lernzusammenhängen und außerschulischen Erfahrungssituationen sowie in unmittelbaren Sachbegegnungen,
  • Fähigkeit zum sprachlichen Handeln, Eigentätigkeit und Selbstverantwortung,
  • Gruppenbewusstsein, Zugehörigkeitsgefühl, Fähigkeit zur Zusammenarbeit,
  • Verlauf der Entwicklung und gegebenenfalls Ergebnisse bisheriger Förderung.

In Bezug auf die Diagnostik zur Überprüfung eines möglicherweise vorliegenden sonderpädagogischen Förderschwerpunkts Emotionale und soziale Entwicklung ist es sinnvoll, dass die Diagnostik unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Regelungen interdisziplinär (z. B. unter Einbezug von Jugendhilfe, Erziehungsberatungsstellen oder anderen Professionen, die zur Unterstützung des Kindes beitragen können) und auch unter Einbezug des Kindes bzw. des Jugendlichen sowie der Erziehungsberechtigten erfolgt, um zu einem umfassenden Bild der Gesamtsituation zu kommen. Alle im diagnostischen Prozess gesammelten Informationen werden von einer Lehrkraft, die in diesem Förderschwerpunkt qualifiziert ist, ausgewertet und - in der Regel in Zusammenarbeit mit allgemeinen Lehrkräften – in einem Gutachten zusammenfassend bewertet. Diese Informationen stellen zugleich eine nützliche Basis für die Erstellung eines Förderplans dar.

Zur „Entscheidung über den Bildungsgang und den Förderort“ gibt die KMK u. a. folgende Empfehlungen (2000, S. 12f):

Auf der Grundlage der Empfehlung und der Beteiligung der Eltern und anderer Dienste sowie unter Beachtung der schulischen und außerschulischen Rahmenbedingungen entscheiden Schule und Schulaufsicht, ob die Schülerin oder der Schüler in die allgemeine Schule aufgenommen wird, dort verbleibt, eine allgemeine Schule mit gemeinsamem Unterricht besucht oder eine schulische Förderung durch eine Sonderschule, in besonderen Klassen oder kooperativen Formen erhält. In diese Entscheidung kann auch die Inanspruchnahme von Einrichtungen mit ergänzenden Ganztags- oder Betreuungsangeboten, vor allem seitens der Jugendhilfe, einbezogen werden.

Dabei sollen folgende Aspekte Beachtung finden (KMK, 2000, S. 13):

  • Art und Umfang des Förderbedarfs,
  • Stellungnahmen der Eltern, der beratenden Gremien und Dienste,
  • Fördermöglichkeiten der allgemeinen Schule einschließlich unterstützender Dienste,
  • Verfügbarkeit des erforderlichen sonderpädagogischen Personals,
  • Verfügbarkeit medizinisch-therapeutischer, psychologischer und sozialer Dienste,
  • Möglichkeiten der Veränderung des Umfeldes.

Besonders hervorgehoben wird in den Empfehlungen, dass „in jedem Einzelfall das Spannungsverhältnis zwischen der bestmöglichen schulischen Förderung und der Herausnahme aus dem sozialen Umfeld zu berücksichtigen“ und „derjenige Förderort zu wählen“ ist, „der dem Förderbedarf des Kindes oder des Jugendlichen, seiner Selbstfindung und Persönlichkeitsentwicklung bestmöglich gerecht wird und hilft, auf die Lebensumstände des Kindes oder Jugendlichen und seiner Familie einzugehen“ (KMK, 2000, S. 13). Alle Entscheidungen sollten in geeigneten zeitlichen Abständen überprüft und nötigenfalls revidiert werden (siehe AO-SF).


Um einen größeren Überblick über Möglichkeiten der Diagnostik im Kontext der emotionalen und sozialen Entwicklung zu erlangen, ist die Lektüre der Werke von Gasteiger-Klicpera, Julius und Klicpera (2008) sowie von Hesse und Latzko (2017) zu empfehlen.

Einen Überblick über eine Vielzahl von im deutschsprachigen Raum verfügbaren Testverfahren bietet die durch die Hogrefe Verlagsgruppe eingerichtete Internetseite www.testzentrale.de.


 

Diese Seite wurde von Dr. Michael Paal, Prof. Dr. Anna-Maria Hintz
und Petra Breuer-Küppers erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.