Im Fokus dieses Abschnitts sollen insbesondere solche Bedingungsfaktoren stehen, deren Beachtung im Kontext des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung laut KMK (2000) relevant sind. Letztlich können ähnliche, u. U. weniger extrem ausgeprägte Bedingungen auch die Entstehung allgemein herausfordernder Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen im Schulalltag begünstigen.


Unterschiedliche Bedingungen, die das Entstehen herausfordernden Verhaltens begünstigen, und wie diesem im Unterricht proaktiv vorgebeugt oder ihm reaktiv begegnet werden kann, wurden bereits im Teilmodul Unterricht beschrieben und zum Teil im Einstieg an Fallbeispielen erläutert.


In den meisten Fällen liegt die Genese von Beeinträchtigungen im Bereich des emotionalen Erlebens und sozialen Handelns von Schülerinnen und Schülern nicht nur in einer einzelnen Ursache, sondern in einem multikausalen bio-psycho-sozialen Bedingungsgefüge begründet. Die Kultusministerkonferenz schreibt dazu (KMK, 2000, S. 4):

Beeinträchtigungen im Erleben und sozialen Handeln stellen keine feststehenden und situationsunabhängigen Tatsachen dar, sondern unterliegen Entwicklungsprozessen, die durch veränderbare außerindividuelle Gegebenheiten beeinflusst werden können. Sie sind nicht auf unveränderliche Eigenschaften der Persönlichkeit zurückzuführen, sondern als Folge einer inneren Erlebens- und Erfahrungswelt anzusehen, die sich in Interaktionsprozessen im persönlichen, familiären, schulischen und gesellschaftlichen Umfeld herausbildet.

Aufgrund der möglichen Multikausalität ist es wichtig, im Rahmen der  Diagnostik ein möglichst umfassendes Bild der vorliegenden Situation zu erlangen, um adäquat fördern und unterstützen zu können.

Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist in starkem Maße von persönlichen und familiären, aber auch von schulischen und gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst, die je nach Ausprägung förderlich oder ungünstig auf sie einwirken. Die Abbildung zeigt in Anlehnung an die KMK (2000) eine Auswahl an möglichen Risikofaktoren, die im Kontext der Entwicklung von Beeinträchtigungen des emotionalen Erlebens und sozialen Handelns relevant sein können. Möglicherweise vorliegende Risikofaktoren können im Einzelfall mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Zusätzlich ist zu beachten, dass sich einzelne oder mehrere Risikofaktoren gegenseitig bedingen können.

Das Schaubild zeigt vier unterschiedlich eingefärbte kleine Dreiecke, die ein großes Dreieck bilden. Titel der kleinen Dreiecke: „Gesellschaftliche Ebene“, „Persönliche Ebene“, „Familiäre Ebene“, „Schulische Ebene“. Darüber und darunter jeweils dazugehörige Begriffe Die Spitze des Dreiecks bildet ein kleines rotes Dreieck. Groß in der Mitte des roten Dreiecks: „Gesellschaftliche Ebene“.  In klein darüber und darunter: „Armut, prekäres Umfeld, Missbrauch von Drogen, beengte Wohnsituation, Ausschluss von Konsum, (Beschaffungs-) Kriminalität, Überforderung durch Medienkonsum, Bereitschaft zur Aggression und Gewalt, Anfälligkeit für politisch extreme Positionen, unzureichende Spiel- und Bewegungsräume, Schwierigkeiten im Aufbau angemessener Werte/Normen, usw.“. Die linke Ecke des Dreiecks bildet ein kleines blaues Dreieck. Groß in der Mitte des blauen Dreiecks: „Familiäre Ebene“. In klein darüber und darunter: Tabus, Krankheit, Delinquenz, Inkonsequenz, Überbehütung, Arbeitslosigkeit, Sucht, emotionale Verwahrlosung, unzureichende Versorgung, unsichere Bindung, Traumata, Dirigismus, Gewalt, Drohungen, ambivalentes Verhalten von Bezugspersonen, keine Kooperationsbereitschaft mit der Schule, geringes Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes, stark von der Schule abweichendes Wertsystem, übersteigerte Erwartung an Gehorsam und Leistungen, Beziehungsprobleme der Erziehungsberechtigten, usw.“. Die rechte Ecke des Dreiecks bildet ein kleines graues Dreieck. Groß in der Mitte des grauen Dreiecks: „Schulische Ebene“. In klein darüber und darunter: „Übereifer, Regression, Absentismus, Stigmatisierung, (Auto-) Aggression, Zurückgezogenheit, Ablehnung von Hilfe, weitere Förderbedarfe, Konflikte mit Personen, geringes Lerntempo/Selbstvertrauen, psychomotorische/-somatische Beschwerden, geringe Motivation/Konzentration/Belastbarkeit, Regelüberschreitungen, Hilflosigkeit, Resignation (z.T. mit Suizidgefährdung), stark affektive Reaktionen auf unklare Regeln/Über-/Unterforderung, starker Bedarf an Zuwendung, usw.“. Die Mitte des Dreiecks bildet ein kleines grünes Dreieck. Groß in der Mitte des grünen Dreiecks: „Persönliche Ebene“.  In klein darüber und darunter: „Widersprüchliche Erfahrungen mit Bezugspersonen, unrealistische Wahrnehmung von sich und anderen, übersteigertes oder niedriges Selbstbewusstsein, Über- und Unterschätzung eigener Leistungen, Flucht aus der Realität, Machtphantasien, Trennungsangst, Drogensucht, psychosomatische Symptome, Anforderungsvermeidung, Introversion, Missbrauch, Aggression, Depression, Regression, Isolation, Extraversion, Delinquenz, Armut, usw.“.

Risikofaktoren im Kontext der Entwicklung von Beeinträchtigungen des emotionalen Erlebens und sozialen Handelns (vgl. KMK, 2000).

Die in der Abbildung gezeigten Faktoren und die konkreten Lebensumstände zu kennen, unter denen die eigenen Schülerinnen und Schüler aufwachsen, kann Lehrkräften helfen, die Kinder oder Jugendlichen in ihrem Handeln und Verhalten besser zu verstehen, sowie eventuelle Herausforderungen und Konflikte in der Schule weniger stark auf die eigene Person zu beziehen und professioneller zu agieren.

Neben vielfältigen Risikofaktoren, die möglicherweise die Entwicklung von einzelnen Kindern und Jugendlichen mehr oder weniger stark beeinflussen, können auf jeder der vier genannten Ebenen aber auch Schutzfaktoren bestehen. Als Lehrkraft gilt es, diese als Chance zu erkennen, um sie als Ressourcen für eine möglichst optimale Unterstützung der Schülerinnen und Schüler zu nutzen.

Gesellschaftliche Ebene: Beispielsweise kann ein offener Kinder- oder Jugendtreff für Schülerinnen und Schüler aus prekären Verhältnissen einen sehr positiven Einfluss haben, wenn sie dort auf Menschen treffen, die ihnen Halt geben und sie unterstützen. Möglicherweise haben sie dort auch die Chance, ein Gegenüber zu finden, das ihnen Normen und Werte vorlebt und vermittelt, die gesamtgesellschaftlich akzeptiert sind und an denen sie sich orientieren können, um selbst weniger in Konflikte zu geraten. In der Resilienzforschung, die sich u. a. mit dem Aufwachsen unter Risikobedingungen beschäftigt, wird ein solches Gegenüber als „signifikanter Anderer“ bezeichnet. Darüber hinaus besteht in einem Kinder- oder Jugendtreff, anders als in der Schule, die Möglichkeit, in einer offeneren Umgebung und ohne Leistungsanforderungen mit verschiedenen gleichaltrigen oder erwachsenen Personen in Kontakt zu kommen und soziales Miteinander zu erleben und zu üben.

Familiäre Ebene: Zur angemessenen Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Problemen im Erleben und Verhalten spielt eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und Lehrkräften eine sehr wichtige Rolle. Die Lehrkräfte sollten versuchen, die häuslichen Verhältnisse sowie die Beziehungen ihrer Schülerinnen und Schüler kennenzulernen (z. B. durch einen Hausbesuch), um so die Kinder oder Jugendlichen und das entsprechende Umfeld besser verstehen zu können. Unter Umständen erscheinen die Probleme der Schülerin oder des Schülers dann in einem ganz anderen Licht. Möglicherweise kann eine Lehrkraft zu der Einsicht kommen, dass es für ein Kind schwierig sein kann, das Eigentum Anderer zu achten, wenn es selbst gar nichts hat, was ihm gehört. Die Lehrkraft kann daraufhin besser entscheiden, wie das Kind sinnvoll unterstützt und gefördert werden kann. Gemeinsam mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten und dem Kind können dann realistische Ziele vereinbart und bei Bedarf behutsam ungünstiges Erziehungsverhalten der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten in gemeinsamer Verantwortung verändert werden. Hierbei ist es wichtig, dass eine vertrauensvolle und professionelle Beziehung besteht und keine Schuldzuweisungen erfolgen, sondern die konstruktive Lösung der vorliegenden Probleme im Fokus steht.

Persönliche Ebene: Auf der persönlichen Ebene können Persönlichkeitsmerkmale (wie z. B.  Neugierde oder emotionale Stabilität) als Schutzfaktoren wirken. Auch das Erleben von Selbstwirksamkeit (z. B. wenn Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie etwas leisten, etwas Positives bewegen können und als Person wertgeschätzt werden) kann einen Schutzfaktor darstellen. Eine weitere wichtige Ressource kann ein realistisches Bild von sich selbst sowie den eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen sein.

Schulische Ebene: Ein realistisches Selbstbild können Kinder und Jugendliche auch in der Schule im sozialen Miteinander und bei Bedarf auch mit Hilfe der Lehrkraft entwickeln. Dies stärkt die Persönlichkeit und schützt vor unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Auf schulischer Ebene sind zudem ein an die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler angepasster Unterricht und gutes Classroom Management hilfreich und unterstützend. So besteht für die Kinder und Jugendlichen Transparenz bzgl. der Abläufe und Erwartungen, sie sind vor Über- oder Unterforderung geschützt und erleben Erfolg. Darüber hinaus bietet die Schule die Chance, dass Kinder und Jugendliche Gemeinschaft finden und erleben, Freundschaften schließen und Zuwendung erfahren. Positive Effekte auf die emotionalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler können auch gezielte Unterrichtseinheiten oder Programme zum sozialen Lernen haben.


Im folgenden Abschnitt Diagnostik wird im Fokus stehen, wie im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung ein möglichst umfassender Eindruck über die Lebensbedingungen des jeweiligen Kindes erlangt werden kann, um die (interdisziplinäre) Unterstützung und Förderung bestmöglich planen und realisieren zu können. Für detailliertere Informationen zu Erklärungsmodellen und möglichen Risikofaktoren für die Entstehung von Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind die Grundlagenwerke von Blumenthal und Kollegen (2020, Kapitel 2) sowie von Gasteiger-Klicpera, Julius und Klicpera (2008, Kapitel 4-8) zu empfehlen.

 

Diese Seite wurde von Dr. Michael Paal, Prof. Dr. Anna-Maria Hintz
und Petra Breuer-Küppers erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.