In der für Nordrhein-Westfalen verbindlichen „Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung - AO-SF)“ wird im § 7 „Hörschädigungen (Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation)“ definiert (MSW, 2016):
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Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation besteht, wenn das schulische Lernen auf Grund von Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit schwerwiegend beeinträchtigt ist.
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Gehörlosigkeit liegt vor, wenn lautsprachliche Informationen der Umwelt nicht über das Gehör aufgenommen werden können.
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Schwerhörigkeit liegt vor, wenn trotz apparativer Versorgung lautsprachliche Informationen der Umwelt nur begrenzt aufgenommen werden können und wenn erhebliche Beeinträchtigungen in der Entwicklung des Sprechens und der Sprache oder im kommunikativen Verhalten oder im Lernverhalten auftreten oder wenn eine erhebliche Störung der zentralen Verarbeitung der Höreindrücke besteht.
Der Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation gehört zu den kleineren Fachrichtungen. Die Abbildung zeigt für Nordrhein-Westfalen, dass der Anteil an der Zahl aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf mit 4 % relativ gering ist. Im Schulalltag wirkt sich oft erschwerend aus, dass die Hörbehinderung eine sogenannte „unsichtbare“ Behinderung ist. Sie ist zunächst optisch nicht sichtbar, was nicht selten unbeabsichtigt dazu führt, die betroffenen Schülerinnen und Schüler „aus dem Auge zu verlieren“ und zu wenig oder keine Rücksicht zu nehmen.
Anteil der Förderschülerinnen und -schüler an den einzelnen Förderschwerpunkten im Schuljahr 20014/2015 (MSW NRW Stat. Übersicht Nr. 389 – Statistische Daten und Kennziffern zur Inklusion 2014/15)
Beim Förderbedarf Hören handelt es sich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts um eine vergleichsweise stabile Größe. Der in der folgenden Abbildung deutlich werdende leichte Anstieg der sonderpädagogischen Förderquote ab etwa 1998 geht zum einen darauf zurück, dass gesetzliche Früherkennungsmaßnahmen immer mehr greifen und im Jahr 2009 das universelle Neugeborenen-Hörscreening eingeführt wurde. Der Anstieg begründet sich zum anderen durch die immer häufigere Diagnose einer Auditiven Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung. Die Gründe dafür sind noch ungeklärt. Der Anteil wird auf 2 bis 3 % eines Jahrgangs geschätzt und Jungen sind doppelt so häufig wie Mädchen betroffen (vgl. Nickisch 2019, S. 180).
Entwicklung der sonderpädagogischen Förderquoten für die Schuljahre 1992/93 bis 2009/10 nach Förderschwerpunkten (ohne Förderschwerpunkt Lernen, Angaben in Prozent) (aus Dietze 2011, S. 6)
Periphere und zentrale Hörschädigungen
Im Teilmodul Hintergrund werden die Auswirkungen einer Hörschädigung auf das Lernen und auf die Sprachentwicklung der betroffenen Schülerinnen und Schüler dargestellt. Dabei wird bereits nach dem Ort der Schädigung zwischen peripheren Hörschäden und zentralen Hörstörungen unterschieden:
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Bei peripheren Hörschäden liegt eine Störung im Außen-, Mittel- oder Innenohr oder im ersten Teil der Hörbahn vor.
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Bei zentralen Hörstörungen erfolgt die Wahrnehmung und Verarbeitung des Gehörten bei in der Regel normaler Hörschwelle unvollständig.
In diesem Teilmodul wird diese Unterscheidung aufgegriffen, um einige differenzialdiagnostisch wichtige Fachbegriffe zu erläutern, bevor ausgesuchte Daten zur Auftretenshäufigkeit von Hörschädigungen und zum Schulbesuch der betroffenen Kinder und Jugendlichen vorgestellt werden.
Bei den peripheren Hörschädigungen werden verschiedene Arten von Schwerhörigkeit unterschieden (vgl. Hintergrund):
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Schallleitungsschwerhörigkeit (auch: Mittelohrschwerhörigkeit): Es liegt eine Störung bei der Schallaufnahme und -weiterleitung in Außen- und Mittelohr vor. Der Schall wird abgeschwächt mit der Folge, dass leiser gehört wird.
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Schallempfindungsschwerhörigkeit (auch: Innenohrschwerhörigkeit): Es liegt eine Funktionsstörung des Innenohrs oder im Hörnerv vor. Die Umwandlung akustischer in neuronale Signale in der Cochlea (Schnecke) oder deren Weiterleitung erfolgt nicht adäquat, besonders bei hohen Frequenzen.
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Kombinierte Schwerhörigkeit (auch: Kombinierte Mittel- und Innenohrschwerhörigkeit): Es liegt gleichzeitig eine Schallleitungsschwerhörigkeit und Schallempfindungsschwerhörigkeit vor.
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Gehörlosigkeit/Taubheit: Bei Vorliegen einer extremen Innenohrschwerhörigkeit, die angeboren oder vor dem Erwerb der Sprache eingetreten ist, spricht man von Gehörlosigkeit oder Taubheit. Minimalste Hörreste sind zumeist vorhanden. Sie reichen aber auch bei Versorgung mit Hörsystemen (=Hörgeräten) nicht aus, um Lautsprache zu verstehen. Diese Kinder werden heute zumeist mit Cochlea Implantaten (CI) versorgt und können so – wenn auch in unterschiedlicher Qualität und Umfang – die Lautsprache erlernen. Kinder, die nicht mit CI versorgt werden, nutzen zumeist die Gebärdensprache als Erstsprache.
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Ertaubung: Tritt eine Gehörlosigkeit/Taubheit während oder nach dem Spracherwerb (ca. ab dem 3./4. Lebensjahr) ein, spricht man von Ertaubung. Dieser Personenkreis wird heute – sofern keine medizinischen Indikationen dagegensprechen – mit Cochlea Implantaten versorgt. Sie haben Lautsprache bereits auf natürlich-imitativem Weg erlernt und können auf den vorhandenen Sprachschatz und bereits gemachte Hörerfahrungen aufbauen.
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Einseitige Hörschädigung: Ist ein Ohr voll funktionsfähig und liegt auf dem anderen eine Schwerhörigkeit oder Taubheit vor, spricht man von einer einseitigen Hörschädigung. Bei dem betroffenen Ohr kann jede Art und jedes Ausmaß (leichtgradig bis taub) vorliegen.
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Von einer minimalen Hörschädigung spricht man, wenn der Hörverlust 20 bis max. 40 dB beträgt. Auf den ersten Blick scheinen die Auswirkungen gering zu sein, da die Schülerinnen und Schüler keine oder kaum sprachliche Auffälligkeiten zeigen und zumeist adäquat reagieren. Das führt nicht selten zu Fehleinschätzungen. Die kontinuierlichen Höreinschränkungen wirken sich auf den Erfolg des schulischen Lernens aus.
Bei zentralen Hörschädigungen im Sinne einer Auditiven Wahrnehmungs- und/oder Verarbeitungsstörung sind zentrale Prozesse der Verarbeitung der auditiven Information gestört, so dass es – trotz normaler Hörschwelle – zu Beeinträchtigungen spezieller auditiver Leistungen kommt. Bei manchen Kindern und Jugendlichen sind z.B. Schwierigkeiten beim Sprachverstehen in Ruhe und im Störlärm, bei der Störlärmunterdrückung, bei der Schalllokalisation oder im auditiven Gedächtnis zu beobachten, obwohl eine durchschnittlich entwickelte Intelligenz vorliegt. Diagnostisch sind diese Heranwachsenden abzugrenzen von Schülerinnen und Schülern mit Lernstörungen und Lernbehinderungen bzw. mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen (ADS und ADHS).
Daten und statistische Angaben
Während als relativ sicher gilt, dass 0,03 % bis 0,05 % der Kinder eines Geburtsjahrgangs gehörlos bzw. hochgradig hörgeschädigt sind (Leonhardt, 2019; Zorowka, 2019), findet sich in der Fachliteratur bei den Angaben zur Schwerhörigkeit eine große Schwankungsbreite. Diese ergibt sich aus uneinheitlichen Erfassungsmethoden, Abgrenzungs- und Klassifikationsproblemen und unterschiedlichen Definitionen von Hörschäden und ist beispielsweise davon abhängig, ob vorübergehende Schallleitungsschwerhörigkeiten miterfasst sind oder nicht.
Mit Beginn des Aufbaus eines „Deutschen Zentralregisters für kindliche Hörstörungen“ (DZH) Mitte der 1990er Jahre versuchte man diesem Missstand entgegenzuwirken. Gross, Finckh-Krämer und Spormann-Lagodzinski (1999), die das Zentralregister aufbauten, verwiesen auf ein Vorkommen von Hörschädigungen zwischen 0,9 und 13 % pro Geburtsjahrgang. Probst (2008, S. 68) sagt aus, dass 1 von 1.000 Neugeborenen eine Hörschädigung von relevantem Ausmaß hat. In den folgenden Lebensjahren steigt die Zahl um 59 bis 90 %. Im Schulalter sind dann etwa zwei von 1.000 Kindern bzw. Jugendlichen betroffen. Eysholdt (2015, S. 435) verweist aus medizinischer Sicht darauf, dass eine „Schwerhörigkeit im Kindes- und Jugendalter als relativ häufige Erkrankung angesehen werden“ muss. Die Abbildung aus der Gesundheitsberichtserstattung des Bundes (Streppel, Walger, von Wedel & Gaber, 2006) zeigt, dass von den frühkindlichen Schwerhörigkeiten 25 % genetische und etwa 20 % erworbene oder vermutlich erworbene Ursachen haben, während bei 45 % der Kinder die Ursachen nicht eindeutig geklärt werden konnten.
Anteil der unterschiedlichen Ursachen an den Fällen von frühkindlicher Schwerhörigkeit (nach Streppel, Walger, von Wedel & Gaber, 2006, S. 10)
Mit vorübergehenden (temporären) Schwerhörigkeiten (z.B. in Folge gehäufter Mittelohrentzündungen, Belüftungsstörungen des Mittelohres oder Paukenerguss) ist sogar bei 10 % aller Kinder zu rechnen. Bei ihnen ist die Jahreshörbilanz zu beachten: Hat ein Kind in der Spracherwerbsphase innerhalb von 12 Monaten länger als 3 Monate eine relevante Hörminderung, muss mit Verzögerungen in der Sprachentwicklung gerechnet werden. Daher sollte diese schnellstmöglich behoben werden.
Hinsichtlich der Geschlechterverteilung sind Jungen und Mädchen von Hörschäden nahezu gleich betroffen, bei leichtem Überhang (5:4) des männlichen Geschlechts. Das wird damit begründet, dass Jungen in der Phase der frühkindlichen Entwicklung ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben (Wisotzki 1998, 36). Das kindliche Zentralregister benennt 54,5 % männlichen Geschlechts. Der Überhang findet sich bei der schwerhörigen Schülerschaft; bei Gehörlosen ist der Überschuss männlicherseits gering.
Von den Schülerinnen und Schüler mit einseitiger Hörschädigung zeigen nach Rosanowski und Hoppe (2004) 30 bis 40% schulische Lernprobleme, vor allem im Schriftspracherwerb.
Besuchte Klassen von 63 Schülerinnen und Schülern mit AVWS an Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören in Bayern (nach Lindauer 2009, S. 120)
Aktuell sinkt die Anzahl der Schülerinnen und Schülern mit peripheren Hörschädigung an den Förderzentren Hören und Kommunikation, da immer mehr von ihnen inklusiv beschult werden, während die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit zentralen Hörschäden (AVWS) ansteigt (Lindauer 2009). Die Schülerinnen und Schüler drängen nach der Grundschulzeit, also mit steigenden schulischen Anforderungen, in die Förderzentren, das belegt eine Untersuchung in Bayern von Lindauer (2009). Mit dem Übertritt in die weiterführende Schule ab dem 5. Schuljahr steigt der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit AVWS in den Förderzentren, Förderschwerpunkt Hören sprunghaft an (Lindauer 2009, S. 120). Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich in den Schulen zur Sprachförderung. Auch hier ist nach der Grundschulzeit und damit bei steigenden Lernanforderungen ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen.
Besuchte Klassen von 30 Schülerinnen und Schülern mit AVWS an Schulen zur Sprachförderung in Bayern (nach Lindauer 2009, S. 143)
Statistische Angaben zum Schulbesuch
Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung besuchen entweder eine allgemeine Schule oder ein Förderzentrum Hören und Kommunikation. In den letzten Jahren und verstärkt durch die UN-Behindertenrechtskonvention verschiebt sich der Anteil zugunsten des Lernens in der allgemeinen Schule. 2011 besuchten 66,4 % der erfassten Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung ein Förderzentrum Hören und Kommunikation und 33,6 % die allgemeine Schule. Das Verhältnis betrug etwa 2:1. Im Jahr 2014 lernten 57,9 % in einem Förderzentrum Hören und Kommunikation und 42,1 % in der allgemeinen Schule. 2018 wurde erstmals über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung inklusiv beschult, nämlich 52,2 %, und 47,8 % lernten in einem Förderzentrum Hören und Kommunikation (nach Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz 2018 und 2020). 2007 – also bevor die Maßnahmen der UN-Behindertenrechtskonvention griffen – war das Verhältnis der im Förderzentrum Hören und Kommunikation Lernenden gegenüber denjenigen, die die allgemeine Schule besuchten, noch 3:1.
Entwicklung des inklusiven Schulbesuchs von Schülerinnen und Schülern mit Hörschädigung in den Jahren 2007, 2011 und 2018
Diese Seite wurde von Prof. Dr. Annette Leonhardt erstellt
und vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ editiert.