Mentale Repräsentanten für Größen (z. B. die Höhe einer Tür für die Länge 2 m, eine Packung Zucker für das Gewicht 1 kg oder eine Packung Milch für das Volumen 1 l) werden häufig als Stützpunktvorstellungenbezeichnet. Dabei handelt es sich um gedankliche Bilder, die ihren Ursprung in konkreten Messerfahrungen haben und über eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen verinnerlicht werden.
Stützpunktvorstellungen sind folglich stets individuell ausgeprägt. Nach der Verinnerlichung sind sie schnell abrufbar und ermöglichen ein näherungsweises Ermitteln der jeweiligen Größen durch ein realistisches Schätzen (Peter-Koop & Nührenbörger, 2011, S. 94). Darüber hinaus erleichtern Stützpunktvorstellungen auch in konkreten Messsituationen das Auswählen geeigneter Messinstrumente und Maßeinheiten.
Eine weitere Aufgabe erfüllen Stützpunktvorstellungen folglich auch bei der Überprüfung der gewonnenen Messergebnisse sowie der Lösung von Sachaufgaben auf ihre Plausibilität hin. Wenn die Lernenden das gedankliche Bild eines Repräsentanten mit dem zu messenden Objekt und dem Messergebnis vergleichen, fällt ihnen die Wahl der richtigen Einheit zur ermittelten Maßzahl deutlich leichter und sie können so eine häufige Fehlerquelle bei der Darstellung ihrer Messergebnisse vermeiden (Greefrath, 2010, S. 17).
Diese Bedeutung der Ausbildung von Stützpunktvorstellungen wird in den aktuellen Bildungsstandards für die Leitidee Größen und Messen sowohl für den ersten als auch für den mittleren Schulabschluss herausgestellt und in folgender Kompetenzerwartung formuliert:
Die Schülerinnen und Schüler (…)
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schätzen Größen mit Hilfe von Vorstellungen über geeignete Repräsentanten (z. B. typisches Objekt für eine Standardgröße) und nutzen dies auch zur Plausibilitätsprüfung,
(Kultusministerkonferenz, 2022, S. 17)
Lernende erwerben Stützpunktvorstellungen durch vielfältige Messaktivitäten an unterschiedlichen Gegenständen. Idealerweise wählen die Schülerinnen und Schüler die Repräsentanten für die jeweiligen Größenmaße selbstständig aus und identifizieren während ihrer Messvorgänge Gegenstände aus ihrer Lebenswelt, mit denen sie sich die jeweiligen Maße am besten vorstellen können. Um eine gemeinsame Gesprächs- und Vergleichsbasis herzustellen, können sich die Kinder einer Lerngruppe für ausgewählte Maßeinheiten auch auf gemeinsame Repräsentanten verständigen. In besonderen Fällen, wenn beispielsweise individuelle Messaktivitäten nicht möglich sind (z. B. für Repräsentanten der Länge 1km) oder die Repräsentanten selbst für Messungen im Klassenverband genutzt werden (Körpermaße als Beispiele für ständig verfügbare Messwerkzeuge oder Mittler bei indirekten Größenvergleichen), können Repräsentanten durch die Lehrkraft (Beispiele s. u.) vorgegeben werden (Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern, 2005, S. 9; Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, 2016, S. 1f.).
Beispiele für Stützpunktvorstellungen
Im Größenbereich Längen dienen in der Grundschule häufig die Körpermaße Fingerbreite, Handbreite oder Fingerspanne sowie ein großer Schritt als Repräsentanten für die Maße 1 cm, 10 cm und 1 m. Diese Körpermaße sind zu jeder Zeit vorhanden und können als Messwerkzeuge flexibel eingesetzt werden, um weitere Maße wie 2m, 20cm oder 50cm zu erfassen. Hinzu kommen dann noch die Bleistiftspitze oder die Dicke einer 1-Cent-Münze als Repräsentanten für das Längenmaß 1 mm.
In der Sekundarstufe I werden diese Stützpunktvorstellungen um Repräsentanten von Teilen und Vielfachen von Längeneinheiten ausgeweitet, die in der Lebenswelt der Kinder von praktischer Bedeutung sind. Repräsentanten für die Längen 100 m und 1 km können häufig nicht mehr selbstständig von den Kindern ausgesucht werden. Deshalb kann die Lehrkraft für solche Längen Beispiele vorgeben, zu denen bei den Kindern ein gedankliches Bild vorhanden ist (die Länge eines Fußballplatzes für 100 m, ein Ort/Gebäude in entsprechender Entfernung vom Schulgebäude für 1 km). Es ist ebenfalls möglich, große Längenmaße in Beziehung zur Zeitdauer zu setzen, die für das Gehen oder Fahren dieser Entfernungen benötigt werden („Für einen Kilometer brauchst du zu Fuß ungefähr 15 Minuten.“ bzw. „Deine Eltern fahren auf der Autobahn in einer Stunde ungefähr 100 km weit – ohne Stau“). Selbstverständlich sollten auch längere Strecken von 100 m oder 1 km von den Schülerinnen und Schülern ausgemessen (z. B. mit einem Messrad), abgelaufen und mit Skalenmarkierungen versehen werden, damit die entsprechenden Stützpunktvorstellungen mit einer Erfahrung verbunden und leichter verinnerlicht werden können.
All diese Repräsentanten sollten gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern auf ihre Allgemeingültigkeit hin untersucht werden, da beispielsweise die Schrittlänge von Kind zu Kind unterschiedlich ist und sich mit dem Wachsen vergrößert, nicht jeder Klassenraum eine Länge von etwa 10 m hat, Kinder unterschiedlich schnell gehen und nicht alle Eltern ein Auto besitzen. Dabei sollte auch deutlich werden, wie genau diese Stützpunktvorstellungen sein müssen und welchen Zweck sie erfüllen.
(Filler & Nührenbörger, 2017, S. 84; Landesinstitut für Schule und Ausbildung Mecklenburg-Vorpommern, 2005, S. 19; Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, 2016, S. 2f.)
Schätzen
Schätzen ist das Ermitteln einer ungefähren Größenangabe durch gedankliches Vergleichen mit eingeprägten Repräsentanten als Stützpunkten.
(Franke & Ruwisch, 2010, S. 248)
In unserer Lebenswelt ist das Ermitteln genauer Größenangaben häufig weder möglich noch notwendig. So fehlen oftmals konkrete Angaben (z. B. der Länge eines Fahrzeugs), wir können keine exakten Messungen (z. B. der Höhe eines Baumes) durchführen oder die Beantwortung einer Frage (z. B. Passt mein Fahrrad durch diese Lücke?) erfordert keine genauen Messungen. Viele Fragen (z. B. Reichen 250 m Strickgarn, wenn alle Kinder der Klasse ein Freundschaftsband bekommen sollen?) können zudem durch Schätzen mit deutlich geringerem Aufwand beantwortet werden als durch exaktes Rechnen. Das Gewinnen von ungefähren Ergebnissen durch Schätzen ist deshalb eine Kompetenz, die im Alltag häufig angewendet werden muss. Im schulischen Kontext ist das Schätzen meist Bestandteil bei der Bearbeitung von Sachaufgaben (Franke & Ruwisch, 2010, S. 250f; Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, 2016, S. 1).
Schätzaufgaben
In der Lebenswelt finden Schätz- und Messaktivitäten selten zeitgleich statt. Daher sollten auch im schulischen Kontext nicht einfach Schätzaufgaben mit dem nachträglichen Messen verbunden werden. Hierbei besteht auch die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler (vor allem, wenn das Schätzergebnis im Vordergrund steht und sie befürchten müssen, dass ihr Ergebnis falsch ist) zuerst messen und dann schätzen oder ihr Schätzergebnis später durch Messungen verbessern. Zudem verliert ein Schätzergebnis an Wert, weil das genaue Ergebnis „richtiger“ ist und damit besser (Franke & Ruwisch, 2010, S. 250).
Stattdessen ist es für die Ausbildung von Schätzfähigkeiten wichtig, die Schätzprozesse bewusst in den Blick zu nehmen. Beispielsweise werden durch das Auslegen einer zu schätzenden Länge mit entsprechenden Repräsentanten in der Vorstellung (Was glaubst du, wie viele Meterstäbe kannst du im Klassenraum hintereinanderlegen?) sowohl die Schätzfähigkeiten trainiert als auch die Stützpunktvorstellungen zu den jeweiligen Maßeinheiten verinnerlicht (Lassnitzer & Gaidoschik). Beim gemeinsamen Austausch über Lösungswege und Schätzergebnisse können diese in Kategorien wie angemessen, geeignet, zweckmäßigoder brauchbar bewertet werden, mit denen deutlich wird, dass mehrere Lösungswege zum Ziel führen können und genaue Ergebnisse nicht notwendig oder messbar sind (Franke & Ruwisch, 2010, S. 250).