Im Gegensatz zu den Umwelteinflüssen scheinen kognitive Faktoren eine weitaus größere Rolle bei der Entwicklung von Sprachstörungen zu spielen. Die aktuelle und einschlägige Forschungsliteratur spricht von einem engen, aber wechselseitigen Zusammenhang (in Abbildung 3 durch Doppelpfeile dargestellt) mit einer eingeschränkten auditiven Informationsverarbeitung und mit herabgesetzten auditiven Gedächtnisfunktionen (vgl. Neumann et al., 2009; Ritterfeld, 2004; Schecker et al., 2007).

Lernende mit Sprachstörungen verfügen demnach offensichtlich über weniger Kapazitäten, sprachliche Informationen zu verarbeiten als dies bei Kindern und Jugendlichen mit einer ungestörten Sprachentwicklung der Fall ist. Verbunden mit einer größeren kognitiven Anstrengung verarbeiten sie in derselben Zeit weniger Informationen als nicht beeinträchtigte Kinder und Jugendliche (vgl. Ritterfeld, 2004, S. 77).

Der erhöhte „Verbrauch“ kognitiver Ressourcen im Zuge der Informationsverarbeitung bedeutet wiederum, dass weniger Kapazitäten für die Speicherung und den Abruf von Informationen aus dem auditiven Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis) zur Verfügung stehen. Die somit reduzierte auditive Merkspanne äußert sich darin, dass insgesamt weniger Spracheinheiten im Arbeitsgedächtnis behalten werden können. Dies hat zur Folge, dass Betroffene im Arbeitsgedächtnis nur über wenige komplexe Spracheinheiten verfügen, aus denen sie wichtige Sprachregeln ableiten könnten (vgl. Ritterfeld, 2004, S. 78).

Die relativ weit verbreitete und funktional durchaus nachvollziehbare Hypothese von den defizitären Sprachverarbeitungsprozessen ist jedoch mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Bisherige Studien können bloß eine statistische Häufung von Fällen nachweisen, bei denen sowohl Sprachstörungen als auch Auffälligkeiten in der auditiven Sprachverarbeitung und -speicherung zu beobachten sind (sogenannte Korrelationsstudien).

Ähnlich wie bei der Frage nach dem Huhn und dem Ei ist das Ursache-Wirkungs-Geschehen noch nicht geklärt: Es ist vorstellbar, dass eine eingeschränkte auditive Informationsverarbeitung zu einer gestörten Sprachentwicklung führt, aber es ist ebenso gut möglich, dass die gestörte Sprachentwicklung in negativer Weise Einfluss auf die auditive Informationsverarbeitung nimmt.