Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass in Abbildung 3 des Teilmoduls Bedingungsfaktoren die Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Sprachentwicklungsstörungen nur einen von drei Faktoren darstellen. Sollte man nicht annehmen, dass die familiären und soziokulturellen Bedingungen, dass die Qualität und Quantität der sprachlichen Anregung durch die engen Bezugspersonen und der Bildungshintergrund der Eltern richtungsweisend für den Spracherwerb sind?

Die sprachliche Entwicklung eines Kindes kann durch häusliche Anregungsarmut in der Familie und durch unzureichende sprachliche Vorbilder in Familie und Freundeskreis beeinträchtigt werden. Kinder aus sprach- und schriftfernen sozialen Milieus und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zeigen häufig sprachliche Auffälligkeiten, wie sie auch bei Sprachentwicklungsstörungen zu beobachten sind (Reber & Schönauer-Schneider, 2017, S. 12).

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, vor allem im Hinblick auf die Elternarbeit an Schulen, dass auch eine unzureichende häusliche Sprachförderung in der Regel nicht die Ursache für das Auftreten einer Spracherwerbsstörung ist (vgl. Ritterfeld, 2004 ; Suchodoletz, 2013), wenngleich der elterlichen Interaktions- und Kommunikationsqualität im Hinblick auf die Kompensatiion von Sprachbeeinträchtigungen grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. Ritterfeld, 2004, S. 80-82). Aus empirischen Studien ist bekannt, dass psychosoziale Faktoren zwar in Beziehung zum Auftreten von spezifischen Sprachentwicklungsstörungen stehen (vgl. Suchodoletz, 2013a, S. 19), aber allein der sozioökonomische Status der Eltern erweist sich nicht als verlässlicher Indikator für die Entwicklung von sprachlichen Beeinträchtigungen (vgl. Neumann et al., 2009, S. 225).

Bezüglich des Mediengebrauchs zeichnet sich in der empirischen Forschung ein ähnlich differenziertes Bild ab. Medial vermittelte Sprache – etwa beim Fernsehkonsum – ist nachweislich kein Auslöser von Sprachstörungen (vgl. Ritterfeld, 2004, S. 82). Wenn extensiver Fernsehkonsum die sprachliche Kommunikation und Interaktion mit Bezugspersonen ersetzt, ist das wenig förderlich, aber mediale Angebote, die Sprache überwiegend monologisch vermitteln, können durchaus förderlich sein.

Empirisch nachgewiesen ist zum Beispiel die Effektivität eines Sprachlernangebots in Form eines Hörspiels, von dem sprachunauffällige Vorschulkinder allerdings stärker profitierten als ihre sprachbeeinträchtigten Peers (vgl. Niebuhr-Siebert & Ritterfeld, 2012). Das Sprachlernpotential von Hörspielen basiert darauf, dass deren Unterhaltungswert die für eine erfolgreiche Sprachverarbeitung notwendige Aufmerksamkeit herstellt und dass die prinzipiell unbegrenzte Wiederholbarkeit des Sprachangebots dafür sorgt, dass neue Worteinträge im mentalen Lexikon nachhaltig stabilisiert werden können (vgl. Ritterfeld, Niebuhr, Klimmt & Vorderer, 2006, S. 67).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Umweltbedingungen wichtig für die kindliche Entwicklung im Allgemeinen und für die Sprachentwicklung im Speziellen sind. Eine direkte Beeinflussung im Entstehungsprozess von Sprachstörungen kann aufgrund vielschichtiger Wirkungszusammenhänge zwar nicht nachgewiesen werden, wohl aber ihr korrektives Potential.

Sprachförderndes Potential des Fernsehens

Fernsehkonsum ist kein per se hemmender oder fördernder Einflussfaktor für den Spracherwerb. Ein Wirkungsgefüge aus verschiedenen Faktoren ist der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten im Kleinkindalter mal mehr, mal weniger dienlich. Bedeutsam ist die dynamische Wechselwirkung zwischen Eigenschaften des Kindes, Charakteristiken des dargebotenen Reizmaterials und dem jeweiligen Kontext, in dem das Medium genutzt wird.

Die nachfolgende Darstellung führt in Anlehnung an Diergarten und Nieding (2012) einige solcher Elemente auf, die sich bei kumuliertem Auftreten günstig bzgl. der Erweiterung und Differenzierung des Wortschatzes auswirken.

Tabelle mit 3 Spalten und 2 Zeilen. Überschriften: „Eigenschaften des Kindes“, „Beschaffenheit des Stimulusmaterials“ und „Kontextbedingungen“. Darunter jeweils erklärende Stichpunkte. Am Ende der drei Spalten jeweils ein Pfeil zu einem Rechteck mit der Aufschrift „Begünstigtes Sprachlernen von Kindern (Erlernen neuer Wörter)“. Genauere Beschreibung: Spalte 1: „Eigenschaften des Kindes“, darunter Stichpunkte: 1. „Vorhandenes Wissen für duale Repräsentationen“, darunter Pfeil: „Bild als digitales Objekt und Repräsentant für einen realen Referenten“ 2. „Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung auf zentrale Inhalte“, 3. „Vorhandener Wortschatz“, darunter Pfeil: „bestimmt Möglichkeit zum Erlernen neuer Wörter aus Fernsehrepräsentationen“. Spalte 2: „Beschaffenheit des Stimulusmaterials“, darunter Stichpunkte: 1. „Einsatz unterstützender Filmtechniken“, darunter Pfeil: „z.B. Aufmerksamkeitsfokussierung durch Zoom-in zentraler Referenten“, 2. „Einbindung interaktiver Elemente“, darunter Pfeil: „Direkte Adressierung durch Moderator (z.B. „Sesamstraße“), Angebote zur Interaktion“, 3. „Bedeutung eines angemessenen Sprachgebrauchs“, darunter Pfeil: „Positive Wirkung narrativer Sendungen (z.B. Winnie-Puh)", darunter Pfeil: „Aufgreifen sozialer Hinweisreize und Konventionen, die kindlichen Erfahrungen über sprachlichen Austausch entsprechen“. Spalte 3: „Kontextbedingungen“, darunter Stichpunkte: 1. „Die entlastende Funktion von Wiederholungen (z.B. bei Rückgriff auf Speichermedien wie DVDs)“, darunter Pfeil: Gewöhnung an Reizmaterial stellt kognitive Kapazitäten für Inhaltsverständnis frei“, 2. „Co-Viewing mit Erwachsenen“, darunter Pfeil: „Erleichterung der Informationsverarbeitung durch begleitetes Benennen und Beschreiben bzw. Stellen von Rückfragen“, 3. „Vermeidung von Hintergrundfernsehen“, darunter Pfeil: „Bindung kognitiver Ressourcen durch anhaltende Orientierungsreaktion zur Geräuschquelle“.