Durch guten Unterricht und professionelle Kooperation zur inklusiven Schule

Matin: Zum Online-Auftakt unseres Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ dürfen wir mit ihnen, Frau Mauermann (LMR’in Projektgruppe Inklusion) und mit ihnen, Herr Schumacher (MR im Referat Grundschule, Gemeinsames Lernen in der Grundschule, Übergang Kindergarten / Grundschule) ins Gespräch kommen! Sie haben unser Projekt von Anfang an unterstützt. Was sind eigentlich ihre Aufgaben im Ministerium? Wo sehen Sie Bezüge zum inklusiven Mathematikunterricht und zu unserem Projekt?

GM: Ich leite in der Schulabteilung des MSW eine der beiden schulfachlichen Gruppen, die Gruppe 51. Dazu gehören das Referat für die Förderschulen und die Schulen für Kranke, das Referat für die Hauptschulen, das Referat für die Realschulen und Europaschulen, das Referat für die Grundschulen sowie mein Referat für die Grundsatzfragen der Inklusion. Damit sind zwei wesentliche Bausteine des Projektes – die Grundschulen und die Inklusion – in meiner Gruppe verankert.

WS: Meine Hauptaufgabe ist die Leitung des Grundschulreferats, das insbesondere für die schulfachlichen Belange der Grundschulen und hier insbesondere für die Schul- und Unterrichtsentwicklung zuständig ist. Wesentliche Aspekte sind aktuell die Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens und die Qualitätsentwicklung in den Fächern. dazu gehört auch ein sprachsensibler und inklusiv angelegter Mathematikunterricht.

Matin: Schul- und Unterrichtsentwicklung brauchen leitende Ideen. Welche Leitideen einer inklusiven Schule von morgen können ihrer Ansicht nach heutiges und zukünftiges Handeln leiten?

GM: Wenn es darum geht, auf dem Weg zur Inklusion die traditionelle Ausrichtung von Schule zu verändern, kommen viele Aspekte von gutem Unterricht in besonderem Maße zum Tragen. Inklusion ist ein umfassender Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess, noch deutlicher als der Auftrag jeder Schule, individuelle Förderung zu ermöglichen. Am Beispiel des Gemeinsamen Lernens wird offensichtlich deutlich, dass Schulen, die sich auf den Weg machen, ihrer heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden, gerade in inklusiven Settings feststellen, dass sie sich in einem großen Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess befinden. In gemeinsamer Verantwortung – so der Auftrag an die Schulen, aber auch das Ziel – geht es darum, guten Unterricht zu entwickeln. Ein zentrales Kennzeichen guten Unterrichts ist für mich, dass er jedem Kind entsprechend seinen Möglichkeiten fördernd und fordernd gerecht wird. Dort, wo diese Schritte begonnen werden, sind die Schulen auf einem guten Weg und können den Herausforderungen zukunftsfähig begegnen. Aber: hier ist auch der Weg das Ziel und viele kleine Schritte führen in die richtige Richtung. Dort, wo es guten Unterricht gibt, ist der Schritt zum guten inklusiven Unterricht nicht mehr weit.

WS: Die Grundschule war und ist eine Schule für alle Kinder. Eine Leitidee ist das pädagogische Bild vom aktiven Lerner. Kinder sind nicht Objekte eines Unterrichts, in dem sie etwas „beigebracht bekommen“. Umgang mit Heterogenität bedeutet für mich vor allem, von den Fragen der Kinder, aber auch von ihren individuellen Stärken und Kompetenzen auszugehen und ihre Eigenaktivität und Eigenverantwortung zu stärken. Die Schülerinnen und Schüler benötigen in den verschiedenen Bereichen (Fächern) differenzierte Unterstützung, Anregung und Hilfe. Deshalb müssen wir einen Unterricht organisieren, der dieser Unterschiedlichkeit bestmöglich Rechnung trägt. Dies muss ein Unterricht sein, der nicht eng führt, Räume lässt und an den vorhandenen Kompetenzen ansetzt.

Matin: Viele Schulen im Wandel zur inklusiven Schule benötigen Unterstützung. In welchen Bereichen sehen Sie momentan den größten Handlungsbedarf?

GM: Das Kern- und Alltagsgeschäft von Schule ist der Unterricht. Dort muss es darum gehen, für jedes Kind sinnvolle Lernangebote zu gestalten. Die Lehrkräfte sind sehr engagiert und wollen das Beste für „ihre Kinder“. Hier ist es wichtig, dass jede Schule aufbauen kann auf ihren bisherigen Erfahrungen und diese dann weiterentwickelt. Obwohl Unterrichtsentwicklung ein durchaus anstrengender Prozess ist, kann sich diese Bemühung so in die richtige Richtung entwickeln und die Schule kann für sich und ihre Kinder die „Früchte“ ihres Einsatzes ernten.

WS: Zunächst müssen wir die Verschiedenheit von Menschen anerkennen, das ist eine Frage von Haltung(en). Ich habe Verständnis für die Unsicherheit, die manche Kolleginnen und Kollegen derzeit empfinden. Der Ausbau der Offenen Ganztagsgrundschule, die Umsetzung der neuen Lehrpläne, die Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens und die Integration sind langfristige Entwicklungsprozesse, die Zeit, Kraft und Geduld erfordern, weil es Aufgaben sind, die alle parallel bewältigt werden müssen. Gleichwohl sollte Einigkeit in der Zielsetzung bestehen. Viele Schulen sind bereits auf einem guten Weg. Die Umsetzungsfragen werden an jedem Schulstandort unterschiedlich beantwortet. Schließlich ist die Arbeit in der Schule von den jeweiligen Bedingungen vor Ort abhängig, Schulen benötigen hier unbedingt Handlungsspielräume innerhalb eines gegebenen Rahmens. Dazu gehören auch die von der Politik zugewiesenen Ressourcen. Den größten Handlungsbedarf sehe ich zurzeit darin, vor Ort handlungsfähige multiprofessionelle Teams zu etablieren, in denen sich die Beteiligten in ihrer Professionalität und Fachlichkeit ergänzen.

Matin: Bei der Weiterentwicklung von Schule und Unterricht lassen sich nicht alle wünschenswerten Veränderungen gleichzeitig herbeiführen. Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte für die nächsten Schritte?

GM: Wichtig ist, dass der eingeschlagene Weg fortgesetzt werden kann. Solche großen Entwicklungsprozesse, die unsere Schulen zukunftsfähig machen, benötigen Zeit und Kontinuität. Es ist wichtig, dass die gemeinsame Verantwortung von Grundschullehrkräften und Lehrkräften für Sonderpädagogik zusammen wächst. Die Zeiten, in denen es „meine Kinder – deine Kinder“ hieß, sind vorbei. Nachdem sich in den ersten Schritten die Strukturen und Organisationsformen vor Ort geklärt haben, wird die Frage der Qualität – sowohl in den inhaltlichen Bereichen, aber auch in der Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen – im Zentrum stehen. Der gemeinsame Blick auf die Kinder aus den unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen Professionen birgt ungemein viel Potenzial, um die Kinder optimal zu fördern und zu unterstützen. Sicherlich, zum jetzigen Zeitpunkt des Prozesses wird es noch nicht möglich sein, alle Grundschulen zu Schulen des Gemeinsamen Lernens zu machen. Aber die Strategien und Entwicklungsschritte, die zu gutem Unterricht führen, sind ja ähnlich, so dass eine gut aufgestellte Schule sich leichter tut, Kindern mit unterschiedlichen Hintergründen – ob im Zusammenhang mit Inklusion oder Integration – gerecht zu werden.

WS: Politische Entscheidungen werden nicht im Schulministerium, sondern im Landtag von den gewählten Abgeordneten getroffen. Das Schulministerium hat die Aufgabe, die Leitentscheidungen des Parlamentes in schulische Praxis umzusetzen. Die Einführung der kompetenzorientierten Lehrpläne im Jahr 2008 hat die Schulen vor die Aufgabe gestellt, die schuleigenen Arbeitspläne zu überarbeiten und insbesondere die prozessorientierten Kompetenzen stärker zu berücksichtigen. Das Projekt PIKAS unterstützt die Grundschulen bei dieser Aufgabe. Mit den vielen im Projektverlauf erarbeiteten praxiserprobten Materialien, die insbesondere auch das Zusammenwirken von fachlicher Unterrichtsentwicklung und Schulentwicklung repräsentieren, erhalten die Lehrkräfte und Schulleitungen vor Ort zielführende und nachhaltige Unterstützung. Wir wissen aber auch, dass solche Entwicklungen Zeit brauchen – Zeit, die sich die Schulen für diese wichtigen Prozesse nehmen sollten.

Matin: Wie werden Sie die Schul- und Unterrichtsentwicklung in der nahen Zukunft konkret begleiten und unterstützen? Gibt es Programme und Maßnahmen, die aus Sicht der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung besondere Beachtung verdienen?

GM: Wie bereits gesagt, ist die Qualität des Unterrichts ein wichtiger Faktor für das Gelingen des Inklusionsprozesses. Insofern sind hier die wissenschaftliche Forschung, aber auch die Serviceleistungen der Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS) in Soest – wesentliche Elemente, um die qualitative Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens zu fördern. Weiterhin sind hier Fortbildungsangebote wie die landesweite „Fortbildung für Schulen auf dem Weg zur Inklusion“ oder die neue Schrift „Sonderpädagogische Förderschwerpunkte in NRW – ein Blick aus der Wissenschaft in die Praxis“ zu nennen, aber auch gezielte unterrichtsfachliche Projekte. Wie zum Beispiel Primakom: Eine Weiterbildung außerhalb der studierten Unterrichtsfächer ist gerade im Gemeinsamen Lernen hilfreich – und da bietet Primakom auf einfache Weise gute Möglichkeiten.

WS: Die Schul- und Unterrichtsentwicklung ist Aufgabe jeder einzelnen Schule und kann naturgemäß auch nur in Verantwortung der Einzelschule realisiert werden. Allgemeine Vorgaben können nur den Rahmen geben, den die Schulen inhaltlich füllen. Dabei halte ich die Elemente „Referenzrahmen Schulqualität“, „Qualitätsanalyse“ und „VERA“ für ebenso unverzichtbar wie hilfreich. Neben der QUA-LiS können die Kompetenzteams und die Schulentwicklungsberaterinnen und Schulentwicklungsberater vor Ort Schulen unterstützen, diese Entwicklungsprozesse eigenverantwortlich zu gestalten. Darüber hinaus wird es weiterhin zeitlich befristete Projekte geben, die aktuelle Entwicklungen aufgreifen und besondere Schwerpunkte setzen. Für die Arbeit in den Grundschulen sind dies neben PIKAS derzeit die Projekte NAWITAS (Sachunterricht/Naturwissenschaften), Informatik in der Grundschule, Kinderrechte und Vielfalt fördern. In diesem Kontext nimmt das Projekt Mathe inklusiv mit PIKAS die fachlichen und fachdidaktischen Fragestellungen im Gemeinsamen Lernen in den Blick und wird konkrete Lösungshilfen anbieten.

Matin: Eine Frage zum Abschluss: Haben Sie ein „P.S.“ für das Projekt Matin?

GM: Ich hoffe, dass es gelingt, das Potenzial dieses Projektes auch über die Grundschule hinaus zu entfalten. Auch Schülerinnen und Schüler, die sich in höheren Jahrgangsstufen mit dem Lernen schwerer tun als andere, können von den in diesem Projekt verankerten Strategien – die aus der Ausgestaltung der ergiebigen Aufgaben vielgestaltige Differenzierungsmöglichkeiten eröffnen – profitieren. Für sie ist die Wiederholung, Sicherung und Vertiefung der Inhalte des Primarbereichs eine zentrale Aufgabe. Und da bietet das Projekt „Mathe inklusiv mit PIKAS“ jede Menge Potenzial. Ich würde mich freuen, wenn immer mehr Kolleginnen und Kollegen diese Erfahrung machen würden.

WS: Nachdem das Projekt PIKAS über die Grenzen von NRW hinaus große Beachtung und Anerkennung gefunden hat, möchte ich zunächst die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle nochmal allen Projektbeteiligten, insbesondere den mitarbeitenden Lehrkräften aus Schule und Hochschule ganz herzlich für ihr Engagement und die hervorragende Arbeit zu danken. Ich bin sicher, dass diese positiven Erfahrungen die Zuversicht rechtfertigen, dass auch das Projekt „Mathe inklusiv mit PIKAS“ von den Lehrerinnen und Lehrern insbesondere in NRW in ähnlicher Weise angenommen wird und damit zur Qualitätssteigerung des Mathematikunterrichts und der Weiterentwicklung des Gemeinsamen Lernens insgesamt beitragen wird. Die enge Vernetzung mit dem DZLM, der QUA-LIS und den Studienseminaren ist angestrebt und wird sicher einen zusätzlichen Multiplikatoreneffekt auslösen. 


Gabriele Mauermann
GABRIELE MAUERMANN
Leitende Ministerialrätin
Projektgruppe Inklusion & Gruppe 51
Wolfgang Schumacher
WOLFGANG SCHUMACHER
Ministerialrat
Referat 515