Visionen zur Inklusion

MATIN: Sie haben sich schon zu einer Zeit mit Inklusion beschäftigt, als es dieses Wort in sei­ner heutigen Prägung noch gar nicht gab. Was hat Sie vor über 40 Jahren motiviert, „inklusiv" zu denken?

O.G.: Nach meiner Referendariatszeit als Volksschullehrerin an einer kleinen Dorfschule ließ ich mich nach München an eine Schule in einer Obdachlosensiedlung versetzen. Dort wurde ich mit einer Schülerschaft konfrontiert, so wie ich sie bislang noch nicht kennengelernt hatte, und ich habe erfahren, wie interessant und bereichernd die Arbeit mit diesen Kindern, die „am Rand der Gesellschaft“ lebten, sein kann. Aber ich bin auch an meine psychischen, physischen und professionellen Grenzen gestoßen. Diese positiven Erfahrungen, wie auch die Grenzerfahrungen, haben mich durch mein weiteres Berufsleben begleitet, u.a. auch als Sonderschullehrerin in einer Integrationsklasse und als Hochschullehrerin in der Lehramtsausbildung.

MATIN: Viele Schulen haben sich in den letzten Jahren zu inklusiven Schulen entwickelt. Wo sehen Sie Chancen und Grenzen dieser Entwicklung?

O.G.: Was ist eine „inklusive Schule“? Das ist bis heute nicht klar definiert. Darf sich eine Schule als „inklusiv“ bezeichnen, wenn sie Kinder aufnimmt, die einen Förderbedarf haben, ohne die entsprechende sonderpädagogische Kompetenz einzubeziehen? Oder ist eine Schule bereits eine „inklusive Schule“, wenn sie den Fokus auf jedes einzelne Kind richtet und individuell ausgerichtete Lernumgebungen geschaffen werden – also eine „gute Schule“ ist?
Durch Migration und Flucht aus Kriegsgebieten sind alle Schulklassen heterogener geworden und die Anforderungen an die Lehrenden wurden ständig größer. Wenn noch Kinder mit einer Beeinträchtigung dazu kommen, steigen diese Anforderungen nochmals erheblich und die Lehrkräfte fühlen sich zu Recht überfordert.
Bisher fiel es mir leicht zu sagen, dass Heterogenität als Chance gesehen werden muss und dass Vielfalt das Schulleben bereichert. Unter den gegebenen Umständen, unter denen Inklusion derzeit umgesetzt wird, kann ich das leider nicht mehr guten Gewissens sagen. Den Förderschulen werden in kaum mehr tragbarem Maße Lehrkräfte entzogen und in den inklusiven Schulen ist die personelle Ausstattung in der Regel beschämend.
Eine im Grundsatz wunderbare Idee – nämlich keiner wird ausgegrenzt – wird auf dem Rücken von Lehrkräften, Kindern und Eltern ausgetragen, solange die Bildungspolitik nicht begreift, dass Inklusion Geld kostet. Wir dürfen uns in den sogenannten inklusiven Schulen nicht an den Lehrern, Kindern und Eltern versündigen, indem wir die Lehrer mit allen Herausforderungen allein lassen und den Kindern die notwendige Förderung vorenthalten.

MATIN: Wie erleben Schülerinnen und Schüler mit und ohne Förderbedarf den inklusiven Unterricht?

O.G.: Die Forschungsergebnisse sind hier nicht eindeutig, denn die Komplexität des Forschungsgebietes ist sehr hoch. Bezüglich Leistung zeigen sich in früheren Studien eher keine Leistungssteigerungen gegenüber regulären Klassen, in neueren Studien dagegen wird von besseren Lernergebnissen berichtet. Im emotionalen und sozialen Bereich zeigen sich durchgängig eher positive Tendenzen, aber auch da gibt es Abweichungen. Wenn Kinder jedoch anerkannt werden, steigt auch das Gefühl von Wohlbefinden. Anerkennung und Wertschätzung hängen stark von der Lehrperson und ihrer Klassenführung ab. Es wurde z.B. festgestellt, dass Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf zunächst mit eher negativen Sympathiewerten beginnen, dass im Laufe der Zeit diese Werte jedoch steigen. Das konnte ich auch in meiner eigenen Praxis beobachten. Je mehr sich Lehrende und Eltern auf Heterogenität in der Klasse einlassen, desto positiver wird der Unterricht von den Kindern erlebt.

MATIN: Welche Anregung würden Sie allen (im inklusiven Unterricht arbeitenden) Lehrkräften gerne geben?

O.G.: So verständlich die Angst vor Überforderung ist, wie auch die Sorge, nicht die ausreichenden Kompetenzen zu besitzen, so würde ich aus eigener Erfahrung doch sagen, dass es sich lohnt, mutig und selbstbewusst neue Wege zu gehen. Wenn man immer auf bessere Bedingungen wartet, bevor man sich auf Neues einlässt, geschieht gar nichts. Lehrende können und müssen Schule aktiv mitgestalten.
Andererseits ist es das gute Recht von Lehrenden, ja sogar ihre Aufgabe, die erforderlichen Ressourcen von der Bildungspolitik einzufordern, sich vor einer Überforderung zu schützen und allen Neuerungen gegenüber kritisch zu bleiben. Das ist eine immerwährende Gratwanderung.

Eine Frage zum Abschluss: Haben Sie ein „P.S." für das Projekt Mathe inklusiv mit PIKAS?

O.G.: Wenn die Inklusionsbestrebungen bewirkt haben, dass in den Fachdidaktiken so differenziert und individualisiert gelernt und gelehrt wird wie möglich, haben wir sehr viel erreicht – egal wie heterogen oder scheinbar homogen eine Klasse zusammengesetzt ist, und egal, ob wir das inklusiven oder einfach nur guten Unterricht nennen.


Prof. Dr. Dr. h.c. Olga Graumann
Prof. Dr. Dr. h.c. Olga Graumann
Universität Hildesheim
Institut für Erziehungswissenschaft -
Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft (Professorin em.)

Oktober 2017 MATIN

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