Der sonderpädagogische Blick im inklusiven Mathematikunterricht

Im Mathematikunterricht stehen zumeist fachbezogene Kompetenzen im Vordergrund, seien diese inhalts- oder prozessbezogen. Sie betrachten den Mathematikunterricht mit dem „sonderpädagogischen Blick“. Sehen Sie Möglichkeiten, auch entwicklungsbezogene bzw. förderzielorientierte Kompetenzen anzubahnen?

Auf jeden Fall. In einem guten Mathematikunterricht geht es überwiegend um die Förderung von inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzen. In einem inklusiven Mathematikunterricht sollte darüber hinaus die Förderung in den Entwicklungsbereichen in den Blick genommen werden. Das Besondere an den prozessbezogenen Kompetenzen des Faches Mathematik ist, dass sie eine bemerkenswert große Schnittmenge zu den Entwicklungsbereichen aufweisen. Der prozessbezogene Kompetenzbereich „Argumentieren“ beispielsweise korreliert eng mit dem Entwicklungsbereich „Kommunikation und Sprache“, die Kompetenz „Darstellen und Kommunizieren“ weist Bezüge zu dem Entwicklungsbereich „Emotionen/ Soziales Verhalten“ aber auch zu „Denken und Lernstrategien“ auf. Durch eine Fokussierung dieser Gemeinsamkeiten kann neben der Entwicklung von fachlichen Kompetenzen eine gezielte Förderung innerhalb eines Entwicklungsbereichs gut entwickelt werden. 

Sie sind eine erfahrene Sonderpädagogin. Sehen Sie im Co-Teaching eine Bereicherung für inklusiven Mathematikunterricht?

Co-Teaching oder kooperatives Unterrichten im gemeinsamen Lernen beruht in meinem Verständnis auf einen kontinuierlichen Austausch zwischen Lehrenden der allgemeinen Schule und sonderpädagogischen Lehrkräften. Im besten Fall profitieren davon alle, Kinder und Lehrkräfte. Für die konkrete unterrichtliche Planung bedeutet dies, dass die Expertisen der einzelnen Lehrkräfte und die professionsspezifischen Sichtweisen dazu genutzt werden, das pädagogische und unterrichtliche Repertoire zu erweitern. Fachliche Förderung und sonderpädagogische Unterstützung sollten nicht nebeneinander herlaufen, sondern es sollte ein gemeinsamer Mathematikunterricht entwickelt und durch zwei „Brillen“ betrachtet werden. Das erfordert gemeinsame Unterrichtsplanung und eine klare, beidseitig akzeptierte Aufgabenverteilung im konkreten Unterricht. Kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander!

Sie sind auch Lehrerin mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Sprache. Welche Möglichkeiten und welche Herausforderungen bietet das Fach Mathematik in diesem Bereich? 

Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Sprache zeigen u.a. Auffälligkeiten in der Artikulation, im Sprachverständnis, bei der Sprachproduktion, im Wortschatz oder in ihren kommunikativen Fähigkeiten. Nun ist mathematisches Lernen in vielfacher Hinsicht sprachliches Lernen. Im Mathematikunterricht hat die Sprache unterschiedliche Funktionen, sie ist Lernmedium, Erkenntnismittel, Speichermedium und meist auch Lerngegenstand. Zudem werden innere Vorstellungsbilder unter anderem auch durch einen Austausch mit anderen entwickelt und verinnerlicht. Überlegungen, im Sinne einer inneren Sprache, werden hörbar, lesbar und damit für mich selbst und für mein Gegenüber zugänglich gemacht. Das sind einige der Herausforderungen, die sich für viele Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Sprache zeigen. Daher gilt es, in einem sprachfördernden Mathematikunterricht die sprachlichen Hürden wahrzunehmen und Möglichkeiten der Entgegnung zu entwickeln. Auch hier bieten die prozessbezogenen Kompetenzen einen guten Zugang. Wenn zum Beispiel Kinder Beobachtungen und mathematische Zusammenhänge beschreiben, eigene Vorgehensweisen verständlich wiedergeben, begründen und präsentieren, kommt es zu Überschneidungen mit dem Entwicklungsbereich Kommunikation/Sprache, z.B. durch Sprechen in Lernsituationen. Dieses Potenzial gilt es, als Lernchance nutzbar zu machen, um im Rahmen eines mathematisch-fachlichen Anliegens fokussiert sonderpädagogisch wirksam werden zu können.

Sie unterscheiden im Mathematikunterricht Individualisierungsmaßnahmen und fokussierte Förderung in den Entwicklungsbereichen. Inwiefern ist diese Unterscheidung wichtig?

Diese Unterscheidung ist sehr bedeutsam. Die Planung von Individualisierungsmaßnahmen geht von der Frage aus: Welche Hilfen, Angebote, Unterstützungen sind nötig, um dem Kind das Erreichen der fachlichen Kompetenzen im Mathematikunterricht zu ermöglichen? Lehrkräfte im gemeinsamen Lernen nehmen individuelle Barrieren wahr und überlegen, wie den Kindern ein Zugang zum mathematischen Inhalt ermöglicht werden kann. Darunter fallen Aspekte wie ausdauerndes Lernen und Lerninteresse stützen, Hilfen beim Erfassen und Verstehen der Lernaufgabe, Hilfen beim Strukturieren und Abarbeiten eines komplexen Lernauftrages, das Festhalten von Ergebnissen, Kommunikationshilfen etc.. Bei der Planung einer fokussierten Förderung in einem Entwicklungsbereich stellt sich eine andere Frage: Wie kann der Mathematikunterricht genutzt werden, um Lernende vor dem Hintergrund ihres individuellen Förderbedarfs -dokumentiert im Förderplan- gezielt in einem individuellen Entwicklungsanliegen zu fördern? Neben der Orientierung an einem fachlich-mathematischen Ziel wird bei der Planung der Unterrichtseinheiten auch ein entwicklungsbezogenes Anliegen für eine Teilgruppe oder für einzelne Kinder in den Blick genommen. Das Sprechen in Lernsituationen wird z.B. in der Du-Phase gezielt gefördert, indem das Kind die Sprecher-Hörer-Rolle wahr- und einzunehmen lernt, Gesprächsabläufe kennenlernt, erprobt, bewertet und einübt etc.. Eine fokussierte Förderung findet nicht allein in einer einzelnen Unterrichtsstunde statt, sondern entwickelt sich im Rahmen einer oder mehreren Unterrichtsreihe(n).

Eine Frage zum Abschluss: Haben Sie ein „P.S.“ für das Projekt „Mathe inklusiv mit PIKAS“? 

Ich bin wirklich begeistert von „Mathe inklusiv mit PIKAS“ und hoffe sehr, dass noch viele Impulse durch das Projekt in die Schullandschaft getragen werden. Weiter so, ganz im Sinne unserer Kinder!

Oktober 2020 MATIN

C. Wölki-Paschvoss
C. Wölki-Paschvoss, Seminarausbilderin am ZfsL Gelsenkirchen, Lehramt Sonderpädagogische Förderung