Schaubild: In der Mitte Rechteck „Förderbereich Motorik“, davon gehen Linien zu sechs weiteren Rechtecken mit folgenden Überschriften: „Kraft und Kraftdosierung“, „Graphomotorik/Feinmotorik“, „Visuomotorik“, „Gleichgewicht“, „Aufrechterhaltung des Muskeltons“, „Rhythmus“.

Abbildung 1 Beispielhafte Entwicklungsbereiche  des Förderbereichs  Motorik, die für den Mathematikunterricht relevant sind

Mit Motorik ist das „Gesamt des Bewegungsverhaltens und seine Bedeutung“ (Leyendecker 2005, S. 13) gemeint, also sowohl aktive, willkürlich ausgeführte als auch unwillkürliche Bewegungen und deren Wirkungen und Bedeutungen. Wesentlich ist, dass willkürliche Bewegungen (eigen)aktiv ausgeführt werden, da ein passives Bewegtwerden nicht zur Ausbildung stabiler Verhaltensmuster führt. Leyendecker (2005) führt dazu als Veranschaulichung die Orientierung in einer fremden Stadt an, die besser gelingt, wenn man sich zu Fuß auf den Weg macht, als wenn man mit einem Taxi gefahren wird, „obgleich das Angebot visueller Wahrnehmungseindrücke gleich war“ (Leyendecker 2005, S. 72). 

Fehlende Bewegungserfahrungen führen oft dazu, dass die Kinder nicht in der Lage sind, Handlungsabfolgen zu planen oder geplante Handlungen in die Tat umzusetzen. Dass Schüler und Schülerinnen mit Bewegungseinschränkungen Probleme im Bereich Mathematik aufweisen, ist im Lernbereich Geometrie unmittelbar einsichtig, wenn es um exakte Zeichnungen geht. Bei Achsenspiegelungen, Zeichnungen von geometrischen Grundfiguren etc. sind Abweichungen zu akzeptieren, denn Kraft und Kraftdosierung im graphomotorischen Bereich, Zielgenauigkeit der Bewegungsausführung und beidhändiges Arbeiten, wie es beim Zeichnen mit einem Lineal unabdingbar ist, sind nur einige Faktoren, die vielen Kindern ein genaues Zeichnen erschweren.


Links: Vorgegebenes Punktebild eines Hauses, darunter die Aufgabe „Zeichne das Punktebild nach!“ Rechts: Schülerlösung. Untergrund besteht jeweils aus 6 mal 6 schwarzen Punkten. Vorgabe: Anfang: Zweiter Punkt in der untersten Zeile. Verbindung von 4 mal 4 Punkten (Quadrat) für die Hausfassade, darin mittig eine 2 mal 1 Punkte Haustür. Schülerlösung: Anfang: Erster anstatt zweiter Punkt in der untersten Zeile. Verbindung von 4 mal 4 Punkten (Quadrat). Die 2 mal 1 Haustür wurde rechts unten im 4 mal 4-Quadrat eingezeichnet anstatt mittig. Vorgabe: Oben trapezförmiges Dach: Die oberen Eckpunkte der Hausfassade wurden mit zwei Punkten der ersten Zeile verbunden. Schülerlösung: Über dem 4 mal 4 – Quadrat wurde das Dach bündig als 2 mal 4-Rechteck eingezeichnet. Die Schwierigkeiten des Lernenden wurden markiert. Rot markierte Stelle: Zeile 1 Punkt 2. Gelb markierte Stellen: Zeile 1 Punkt 3, Zeile 3 Punkt 1 und 4, Zeile 6 Punkt 1 und 4.

Abbildung 2 Aufgaben (nach Registrierung)) verfügbar unter www.zaubereinmaleins.de

Die Aufgabe besteht darin, die vorgegebene Figur in das danebenliegende Punktmuster zu übertragen. Sie wurde von einem 8-jährigen Jungen mit einer spastischen Lähmung bearbeitet. Offensichtlich ist die Übertragung nur ansatzweise gelungen, aus Sicht des Schülers hat er aber genau abgezeichnet. Abgesehen von der durch die Spastik zittrig wirkenden Strichführung lagen die Schwierigkeiten in verschiedenen Aspekten:

  • die fehlerhafte Auswahl des Anfangspunktes (in rot markiert), da er sich hier verzählt hat.
  • Die weiteren vom Schüler identifizierten und übertragenen Punkte (in gelb gekennzeichnet) wurden so identifiziert, dass sich ein Haus ergäbe, das im Punktraster nur um 1 verschoben wäre. Dass dies noch nicht gelungen ist, liegt an der Unfähigkeit, schräg verlaufende Linien zu zeichnen. Die vorgegebenen Punkte des Punktrasters konnten daher ausschließlich dann miteinander verbunden werden, wenn sie horizontal neben- bzw. vertikal übereinanderlagen. Eine mögliche Begründung kann darin liegen, dass dem Schüler die Erfahrung mit schrägen Ebenen fehlt, er ist weder eine Wiese hinabgerollt noch eine Rutsche hinuntergerutscht.
  • Die Tür des Hauses ist (vom Punktraster aus betrachtet) korrekt eingezeichnet, die Beachtung des gezeichneten „Hauses“ als neuer Bezugspunkt gelingt nicht.
  • Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass nach Zeichnung einer Linie der Stift aus der Hand gelegt werden musste, um die neue Linienführung und deren Start- und Endpunkt mit dem Finger und unter teilweisem Abzählen der Punkte zu bestimmen. Das bedeutet jedes Mal ein erneutes Auffinden der entsprechenden Punkte in beiden Punktrastern. Ein rein visueller Abgleich zwischen Vorlage und eigener Zeichnung ist wegen der vorhandenen Wahrnehmungsproblematik nicht möglich. Hierbei ist zusätzlich zu einer häufig verminderten Sehleistung an sich auch die beeinträchtigte Kontrolle der Augenbewegung problematisch (vgl. Bergeest & Boenisch 2019, S. 111). Viele Kinder legen einen Finger der Hand auf den nächsten anzusteuernden Punkt der Vorlage und zeichnen mit der anderen Hand die entsprechende Linie in ihr Raster. Das setzt allerdings ein beidhändiges Arbeiten voraus, was bei Kindern mit körperlich-motorischem Unterstützungsbedarf oft nicht vorhanden oder nur erschwert möglich ist.

Körper-, Raum- und Objektvorstellungen sind bei diesem Schüler nicht oder nicht in einem ausreichenden Maß ausgebildet und die Visuomotorik – die visuelle Kontrolle der Zeichenbewegung – gelingt nur eingeschränkt (Schäfer 2001, S. 19 ff.). 

Kinder ohne Beeinträchtigungen entwickeln ihre Handmotorik in der Regel vor der Einschulung und bilden eine einseitige Händigkeit aus. Diese Lateralität hängt mit der Gehirnentwicklung zusammen. Problematisch verläuft diese Entwicklung, wenn durch eine halbseitige Lähmung die gehirnmäßig bevorzugte Seite beeinträchtigt ist. Dann muss das Kind beispielsweise mit der rechten Hand schreiben, obwohl es eigentlich Linkshänder ist. Die sich daraus ergebenden Probleme entsprechen denen der sogenannten „umerzogenen“ Linkshänder.

Bewegung beinhaltet auch die Balance- und Gleichgewichtsreaktionen, die bei Kindern ohne Unterstützungsbedarf automatisiert ablaufen. Manche Kinder mit motorischen Einschränkungen müssen allein für das aufrechte Sitzen auf einem Stuhl oft schon sehr viel Konzentration aufwenden, die dann für den eigentlichen Lerninhalt und die eigentlichen Lernaktivitäten nicht mehr zur Verfügung steht. Ein instabiles Sitzen bedeutet, dass der Muskeltonus nicht über den notwendigen Zeitraum hinweg gehalten werden kann. Die betroffenen Kinder wirken oft unruhig und konzentrationsschwach (vgl. Bergeest & Boenisch, 2019, S. 201-206).


Zeichnung eines Jungen, der Fußball spielt.

Raphael (vgl. Einstieg, Fallbeispiel 2) ist ein Kind, das eine kontinuierliche Muskelspannung noch nicht aufbauen bzw. halten kann. Er ist immer in Bewegung und baut dadurch wieder Spannung auf. Diese motorische Unruhe hindert ihn jedoch daran, sich auf die Aufgabenstellung zu konzentrieren. Man kann sich seine Schwierigkeiten vorstellen, wenn man sich so auf einen großen, straff aufgepumpten Gymnastikball setzt, dass die Füße den Boden nicht vollflächig berühren können. Die Sitzposition ist jetzt instabil. Um nicht herunterzufallen werden Ausgleichsbewegungen notwendig, die – weil bei den meisten wenig geübt – überschießend sein werden, so dass wiederum gegenläufige Bewegungen zur Korrektur notwendig werden. Dies läuft erst nach längerer Übung automatisiert ab, so lange aber geraten alle anderen (Lern-) Anforderungen sehr schnell aus dem Fokus und stellen dadurch eine Überforderung dar. Bereits ab Einschulung wird von den Kindern erwartet, dass sie stillsitzen können, einen Stift halten und zwischen Tafel und Heft hin- und herschauen können. Allein durch die Änderung der Blickrichtung kann das mühsam erworbene Gleichgewicht nicht mehr gehalten werden, das Kind „zappelt“ auf seinem Stuhl herum.


Bei der infantilen Cerebralparese ist die Kontrolle der Willkürmotorik eingeschränkt und da auch der Muskeltonus nur schwer beeinflussbar ist, können die betroffenen Kinder keinen Rhythmus halten. Das hat Auswirkungen auf den Mathematikunterricht, wenn z. B. beim Einüben der Zahlwortreihe rhythmisch gesprochen wird oder wenn Anzahlen durch rhythmisiertes Klatschen erlernt bzw. geübt werden sollen. Solche Handlungen mögen vielen Kindern helfen, aber sie gelingen nicht, wenn die Muskulatur nicht willentlich gesteuert werden kann. Hinzu kommt, dass beim Abzählen der Rhythmus der Hand-/Fingerbewegung zum Antippen oder Wegschieben der gezählten Objekte und der Rhythmus der verbalen Nennung von Zahlwörtern koordiniert werden muss. Bei motorisch beeinträchtigten Kindern führt dies oft dazu, dass Zahlwort und gezähltes Objekt nicht einander entsprechen. Solche Fehler sind jedoch nicht reproduzierbar, es kann vorkommen, dass beim ersten Abzählen zu wenig Zahlwörter genutzt, beim zweiten zu wenig Objekte erfasst werden. Wenn aber Abzählprozesse zu unterschiedlichen Ergebnissen führen – wie soll dann die 1:1-Zuordnung und die Zahl-Mengen-Zuordnung und Vorstellung gelernt werden?


Zeichnung eines Jungen mit Unterschenkel-Orthesen und Helm.

Tobias (vgl. Einstieg, Fallbeispiel 3) hatte auf Grund seiner Spastik zunächst Probleme beim Abzählen. Er traf mit dem Finger nicht zuverlässig die abzuzählenden Objekte, sondern „zählte“ zum Teil auch die Lücken. Beim Verschieben der Objekte, um einen Überblick zu erhalten, welche bereits gezählt und welche noch zu zählen sind, verwischte er unabsichtlich die Grenzen zwischen den beiden Teilmengen durch seine einschießende Spastik. Beim Abzählen gelang mit Mühe und bei Verwendung rutschfester Materialien eine 1:1-Zuordnung von Zahlwort und Objekt. Zu Beginn des Lernprozesses konnte er die Anzahl von Objekten nur angeben, wenn er die Zahlwortreihe bis zur entsprechenden Anzahl aufsagte.


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Diese Seite wurde mit Unterstützung von
Gesine Neumann und Dr. Ria-Friederike Kirchhof
vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ erstellt.