Wahrnehmung
Abbildung 3 Beispielhafte Entwicklungsbereiche des Förderbereichs Wahrnehmung, die für den Mathematikunterricht relevant sind
Die Sinneswahrnehmung ist kein passiver Vorgang der inneren Abbildung von äußeren Reizen, sondern ein aktiver Prozess, in dessen Verlauf Sinnesorgane der Umwelt bestimmte Reize entnehmen und zum Gehirn leiten, wo sie mit Informationen anderer Sinnesorgane bzw. mit bereits gemachten Erfahrungen abgeglichen und mit subjektiver Bedeutung belegt werden (Gömann 2010, S. 17).
Bei vielen Kindern, bei denen eine Infantile Cerebralparese diagnostiziert wurde, liegt auch eine Sehstörung oder eine Hörbeeinträchtigung vor. Bei der visuellen Wahrnehmung geht es u.a. um die Genauigkeit der Wahrnehmung und die Unterscheidung bedeutungsrelevanter Einzelheiten. Das Schriftbild von Ziffern wird oft nicht korrekt wahrgenommen und kann dann nicht wiedergegeben werden (z.B. wird eine 8 als Einheit von zwei Kreisen wahrgenommen, deren Anordnung durchaus auch in Form konzentrischer Kreise wiedergegeben wird). Hörbeeinträchtigungen erschweren die Diskrimination ähnlich klingender Wörter („zwei“ und „drei“, „dreizehn“ und „dreißig“).
Neben solchen peripheren Wahrnehmungsstörungen sind zentrale Wahrnehmungsstörungen von Bedeutung, welche die Verarbeitung von sensorischen Informationen betreffen. Es kommt vor, dass zwar keine Störungen der entsprechenden Sinnesorgane vorliegen, aber die aufgenommenen Reize nicht adäquat verarbeitet werden können, d.h. ihnen wird im Gehirn nicht die passende Bedeutung zugeschrieben. Mathematisch bedeutsam ist dies etwa bei der Zuordnung von Zahlen zu Mengen, bei der nur eine einzige Zahl einer Menge von vielen Elementen zugeordnet wird. Kann ein Kind die Bedeutung der „5“ nicht erfassen, so bleibt die Zuordnung der Ziffer zur Menge mit 5 Elementen unverstanden.
Manche Kinder mit körperlich-motorischem Unterstützungsbedarf haben Schwierigkeiten bei der visuellen Wahrnehmung, weil sie auf Grund mangelnder Bewegungskontrolle des Kopfes und/oder der Augen Gegenstände nicht fixieren können. Die Objekte verschwinden immer wieder aus dem Gesichtsfeld, so dass ein Vergleich zwischen mehreren Gegenständen bzw. Abbildungen erschwert ist. Dies beeinträchtigt die Fortsetzung von Reihen, das Erfassen komplexer Darstellungen (Parkettierung), das Erkennen von Beziehungen zwischen den gezeichneten Objekten usw..
Abbildung 4 Aufgaben online unter www.mathemonsterchen.de verfügbar.
Die Aufgabe bestand darin, die in der oberen linken Ecke befindliche Figur (im Beispiel ein Kreis) wiederzufinden und einzufärben. Die Abbildung zeigt die Lösungen eines 7-jährigen Schülers. Offensichtlich ist, dass er die Form des Kreises erkennt und auch markieren kann, aber motorisch nicht in der Lage ist, die Figuren mit Stiften zu färben (oberes Aufgabenbeispiel). Stempeln mit dem Finger dagegen führt zu einer korrekten Lösung, die Auge-Hand-Koordination und die Identifizierung von Kreisen aus einer Vielzahl von Figuren gelingen (unteres rechtes Aufgabenbeispiel). Sind die Figuren teilweise überlappend dargestellt (linkes Aufgabenbeispiel), so kann der Schüler die Kreise nicht mehr identifizieren – die Figur-Grund-Wahrnehmung ist noch nicht ausgeprägt.
Die Figur-Grund-Wahrnehmung ist u.a. beim Bearbeiten von schriftlich gestellten Aufgaben auf Schulbuchseiten oder Arbeitsblättern eine wesentliche Voraussetzung für das visuelle Herausfiltern der zu bearbeitenden Aufgabe (Figur) aus einer Vielzahl von weiteren Aufgaben und graphischen Ornamenten auf der Seite (Hintergrund). Wie das Beispiel zeigt, verstärkt sich diese Problematik bei sich überschneidenden Vorlagen und erst recht dann, wenn es sich um bewegte Bilder handelt, wie sie oft in PC-Übungsprogrammen verwendet werden, denn die Bewegung lenkt in solchen Fällen von der Aufgabenstellung ab. Jeder kennt das Phänomen, dass man nur schwer den Blick von bewegten Bildern im Fernseher lösen kann, wohingegen statische Bilder in Form von Gemälden weniger beachtet werden. Für Kinder mit einer eingeschränkten Figur-Grund-Wahrnehmung gilt dies erst recht. Einige Programme blenden bei richtiger Lösung eine als Motivation gedachte Grafik ein, viele visualisieren die Anzahl der bearbeiteten Aufgaben, zum Teil wird noch die Lösungsqualität farblich kodiert. Diese ständige Bewegung auf dem Bildschirm reicht bei Kindern mit beeinträchtigter Figur-Grund-Wahrnehmung bereits aus, um die Bearbeitung der Aufgaben zu stören oder zu verhindern.
Die unzureichend ausgebildete Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Umgebungsreizen nicht die für die jeweilige Situation erforderlichen Reize zu selektieren (Leyendecker 2005, S. 96), führt bei vielen Kindern zu Perseveration, das ist die Tendenz, in ähnlichen Situationen und auf ähnliche Reize mit einem gleichbleibenden Handlungsmustern zu reagieren. Im Bereich der Mathematik, in dem gerade auch flexibles Umgehen mit Zahlen und Operatoren erreicht werden soll, führt dies oftmals dazu, dass Kinder Aufgabenstellungen des Einspluseins oder Einmaleins auswendig können, aber nicht flexibel damit umgehen bzw. keinen Transfer auf andere Aufgaben vornehmen. Aufgabenstellungen wie Tausch- und Umkehraufgaben werden nicht als zusammengehörig erkannt, die Ergebnisse werden extra erlernt und sind meist nur rein gedächtnismäßig abrufbar. Ein Erschließen des Ergebnisses aus bereits vorhandenen und gelösten Aufgabenstellungen gelingt dementsprechend oft nicht.
Hat ein Kind erkannt, dass ein Plus- und Gleichheitszeichen innerhalb einer Aufgabenstellung eine Addition bedeutet, so wird es diese Rechenstrategie anwenden - die umrandeten Zahlen zeigen jeweils an, welche Zahlen vom Kind eingetragen wurden:
Abbildung 5 Beispiel einer Perseveration
Die Auge-Hand-Koordination als eine Form der visuellen Kontrolle der mit der Hand ausgeführten Bewegungen ist einerseits beeinträchtigt durch die Handmotorik, andererseits aber auch durch die visuelle Wahrnehmung an sich. Bei einzelnen Behinderungsformen gibt es einen sogenannten asymmetrisch tonischen Nackenreflex, der fatalerweise dazu führt, dass in dem Moment, in dem das Kind z.B. mit der rechten Hand nach einem Gegenstand greift, der Kopf zur linken Seite gedreht wird. Dies ist vom Kind nicht zu beeinflussen, eine Auge-Hand-Koordination und eine eventuelle Korrektur der initiierten Greifbewegung sind dadurch aber unmöglich. Demzufolge fehlt die Wahrnehmung der durch die eigenaktive Bewegung erreichten Veränderung (z.B. Vereinigung zweier Teilmengen). Die Erkenntnis verändert sich in etwa so, als ob man einen Film in mehreren Standbildern gezeigt bekäme – die Handlungsabfolge erschließt sich hier auch nur unvollständig.
Die taktil-kinästhetische Wahrnehmung ist bei vielen Kindern oft nur unzureichend ausgebildet, bildet aber die Voraussetzung für Empfindungen von Lage, Kraft und Bewegung. Kinder mit einer Beeinträchtigung in diesem Bereich können die eigene Bewegung oft nicht korrekt wahrnehmen und damit nachfolgende Bewegungen auch nicht planen bzw. anpassen, zumal gerade bei der ICP die Willkürmotorik betroffen ist. Hier „passiert“ den Kindern die Bewegung und kann nur erschwert von ihnen gesteuert werden. Wahrnehmungsstörungen in diesem Bereich betreffen damit sämtliche Form- und Größenwahrnehmungen im mathematischen Bereich. Ein kontinuierliches Erfühlen von Formgegebenheiten oder ein Vergleich von Größen setzt einen gleichbleibenden Muskeltonus voraus, um den Gegenstand als Gesamtheit und nicht aus unterschiedlichen Wahrnehmungsstücken zusammengesetzt wahrzunehmen. Bei einer zu hohen Kraftdosierung wird z.B. ein Kreis aus Pappe geknickt, die Formerfahrung „rund“ ist dann nicht mehr zu machen. Einige Kinder weisen im taktilen Bereich eine Überempfindlichkeit des Tastsinns auf und lehnen Fühlerfahrungen ab, andere können auf Grund einer Hyposensibilität nur dann die Berührungen spüren und einordnen, wenn sie diese gleichzeitig visuell wahrnehmen. Bei einigen Kindern ist der Greifreflex noch auslösbar, ein Tasten mit der Handinnenfläche damit ausgeschlossen.
Bei den geometrischen Aufgabenstellungen zu Spiegelungen können Kinder ohne entsprechenden Unterstützungsbedarf auf Grunderfahrungen mit dem sozusagen spiegelsymmetrischen Aufbau des eigenen Körpers zurückgreifen, indem sie beispielsweise die linke und rechte Hand gegeneinander legen. Kinder mit einer ICP haben oft unterschiedlich geformte Hände, können sie nicht öffnen, nicht in der Körpermitte zusammenführen oder auch die Innenflächen nicht nach oben oder zur Seite drehen. Außerdem ist die stärker betroffene Seite auf Grund mangelnder (Eigen-)Bewegung und/oder auf Grund veränderter Sensibilität nicht ausreichend mental repräsentiert, was dazu führt, dass die Kinder diese Seite ihres Körpers nicht entsprechend wahrnehmen. Ist bei einer Hemiplegie die eine Körperseite nicht oder unzureichend im Gehirn repräsentiert, fällt auch die Rechts-Links-Unterscheidung schwer. Ein gut ausgeprägtes Körperschema ist Voraussetzung für Raumwahrnehmungen, Raum-Lage-Beziehungen und Abschätzen von Größen und Größenverhältnissen. Dies wiederum hat auch beim Schreiben von Zahlen eine große Bedeutung: Zahlendreher, spiegelverkehrte Schrift, fehlerhafte Fortsetzung von Reihen, Einhaltung einer Lese- und Schreibrichtung sind nur einige Probleme, die darauf zurückzuführen sind.
Diese Seite wurde mit Unterstützung von Dr. Ria-Friederike Kirchhof
vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ erstellt.