Wie lassen sich die Begriffe „Sehschädigung“, „Sehbeeinträchtigung“, „Sehbehinderung“ und „Blindheit“ voneinander abgrenzen? Was genau bedeuten diese Begriffe? Wie häufig sind Beeinträchtigungen des Sehens?

Begriffsklärungen

Je nach sozialrechtlicher, medizinischer oder pädagogischer Sichtweise gibt es in Deutschland verschiedene Ansätze, die unterschiedlichen Ausprägungsgrade beeinträchtigten Sehens zu definieren und zu klassifizieren. In sozialrechtlichen Kontexten, wo es um klare Richtlinien geht, welche Personen staatliche Unterstützungsleistungen erhalten, spielt bei der Klassifizierung von Sehbeeinträchtigungen die medizinisch diagnostizierte Schädigung der am Sehen beteiligten Körperstrukturen (z.B. Linse, Netzhaut, Sehnerv, kortikale Wahrnehmungsareale) die entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der „Sehschädigung“ verwendet. Der Sehschärfe (Visus) kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu, um den Schweregrad der Schädigung zu erfassen. Bei einer Visusmessung muss die Testperson Sehzeichen (Optotypen wie beispielsweise logarithmisch kleiner werdende Buchstabenreihen) in einer normierten Entfernung erkennen. Aus der Differenz zwischen Normdistanz und tatsächlicher Prüfdistanz lässt sich die Sehschärfe folgendermaßen errechnen:

Visus = Prüfdistanz / Normdistanz


Beispiel zur Veranschaulichung: Ist eine Sehtafel auf fünf Meter normiert, die Testperson müsste jedoch bis auf einen Meter an die Sehzeichen herantreten, um diese zu erkennen, beträgt der Visuswert 1/5 (0,2). Der Referenzwert für nicht beeinträchtigtes Sehen liegt immer bei 1,0 (in unserem Beispiel 5/5). 


Neben Visuswerten für die Ferne kann mit entsprechend normierten Prüftafeln auch ein Nahvisus bestimmt werden, der im Leseabstand (25-30 cm) ermittelt wird. Der Nahvisus ist für schulische Aufgaben beispielsweise bei Lese- und Schreibtätigkeiten äußerst bedeutsam und kann sich vom Fernvisus unterscheiden.

Zusätzlich zur Sehschärfe wird bei der medizinischen und sozialrechtlichen Bestimmung einer Sehschädigung in der Regel das Gesichtsfeld überprüft. Als Gesichtsfeld wird derjenige Bereich der Außenwelt bezeichnet, der bei unbewegtem Kopf und ohne Augenbewegungen wahrgenommen werden kann (Henriksen & Laemers, 2016, S. 142).

Gesichtsfeldeinschränkungen können sozialrechtlich als ähnlich schwerwiegend eingestuft werden wie Minderungen der Sehschärfe.

Eine medizinisch-sozialrechtliche Klassifizierung der Sehschädigung orientiert sich immer am Visuswert des besseren Auges, der mit bestmöglicher Korrektur (Brille, Kontaktlinse) ermittelt wurde. Je nach Visuswert wird eine Klassifizierung in die Kategorien Sehbehinderung, hochgradige Sehbehinderung und Blindheit vorgenommen (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft, 2011).


Medizinisch-sozialrechtliche Klassifikation der Sehschädigung anhand der Sehschärfe (Visus)

  • Sehbehinderung ≤ 0,3 bis ausschl. 0,05 
  • Hochgradige Sehbehinderung ≤ 0,05 bis ausschl. 0,02 
  • Blindheit ≤ 0,02 

Blindheit bedeutet im medizinisch-sozialrechtlichen Kontext im Gegensatz zur umgangssprachlichen Verwendung, dass die betroffene Person durchaus noch über geringe visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten verfügen kann. 

Für den pädagogischen Kontext sind die medizinischen Aussagen zur Sehschädigung wichtige Orientierungspunkte. Allerdings lassen sich hieraus pädagogische Maßnahmen nicht unmittelbar ableiten. Deshalb wird bei der Definition der Zielgruppen blinden- und sehbehindertenspezifischer Förderung auf strenge medizinische Grenzwerte verzichtet. In den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Sehen“ der Kultusministerkonferenz von 1998 finden sich folgende Beschreibungen der Gruppen blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher (Drave et al., 2000, S. 179):

„Blinde Kinder und Jugendliche können nicht oder nur in sehr geringem Maße auf der Grundlage visueller Eindrücke lernen. Sie nehmen Informationen aus der Umwelt insbesondere über das Gehör und den Tastsinn sowie über die Sinne der Haut, des Geruchs und des Geschmacks auf. Die kompensierenden Funktionen dieser Sinne können durch geeignete Lernangebote entwickelt und gefördert werden. Kinder und Jugendliche mit einer Sehbehinderung können ihr eingeschränktes Sehvermögen nutzen. Sie sind in vielen Situationen auf spezielle Hilfen angewiesen. Sie bedürfen besonderer Anleitung, sonderpädagogischer Förderung und technischer Hilfen. Dies kann auch bei Sehbehinderungen geringeren Grades notwendig sein wie bei Beeinträchtigungen des Sehvermögens beider Augen oder bei Einäugigkeit.“

Das Vorliegen einer medizinisch diagnostizierten Sehschädigung lässt offen, inwieweit die Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten der betroffenen Person eingeschränkt sind oder nicht. Wann eine Schädigung zu einer Behinderung von Teilhabe und Aktivität führt, ist situationsabhängig und bedingt durch die Gestaltung der Umwelt (z.B. sind Orientierungshilfen an Verkehrsampeln vorhanden, sind Hilfsmittel verfügbar) sowie beeinflusst durch individuelle Faktoren (z.B. Kompetenzen bei der Nutzung von Hilfsmitteln). Um diese Offenheit zum Ausdruck zu bringen wird bewusst der in dieser Hinsicht neutrale Begriff der „Sehbeeinträchtigung“ anstelle von „Sehbehinderung“ verwendet.

Das nachfolgende Klassifizierungsmodell (Lang & Heyl, 2020, S. 21) stellt einen Versuch dar, die Begriffsvielfalt zu ordnen und einem dynamischen Behinderungskonzept anzupassen. Die Begriffe „Sehbeeinträchtigung“ und „Blindheit“ bilden hierbei Grundkategorien, die unabhängig von der Ursache der Sehschädigung zu verstehen sind. „Sehbeeinträchtigung“ wird ausdifferenziert in die sozialrechtlich bedeutsamen Kategorien „Sehbehinderung“ und „Hochgradige Sehbehinderung“, schließt jedoch auch sozialrechtlich nicht relevante Einschränkungen von Sehfunktionen mit ein. Sowohl bei „Sehbeeinträchtigung“ als auch bei „Blindheit“ bleibt offen, ob eine Behinderung von Teilhabe und Aktivität vorliegt oder nicht. Grundsätzlich kann bei allen Formen und Ausprägungsgraden beeinträchtigten Sehens eine Behinderung vorliegen. 

Die Abstufung der genannten Kategorien kann sich an Visusgrenzen orientieren oder an vergleichbaren Beeinträchtigungen. Die Unterscheidung von „Blindheit“ und „Sehbeeinträchtigung“ sowie die Ausdifferenzierung von „Sehbeeinträchtigungen“ ist sinnvoll, weil die jeweiligen Maßnahmen zum Abbau von Teilhabebarrieren sehr verschieden sein können. 

Schaubild. Oben Rechteck: „Individuelle, auf den Ebenen der Körperstrukturen und Körperfunktionen vorliegende okulare, zerebrale oder psychische Ursachenzusammenhänge mit Auswirkungen auf das Sehvermögen“. Von dort ausgehend jeweils ein Pfeil zu „Sehbeeinträchtigungen“ und „Blindheit“. Unter „Sehbeeinträchtigungen“ 3 Pfeile zu 3 Rechtecken: 1. „Einschränkungen von Sehfunktion ohne sozialrechtliche Relevanz, z.B. hinsichtlich Sehschärfe, Gesichtsfeld, Formerkennung“. 2. „Sehbehinderung, z.B. Visus kleiner gleich 0,3 bis ausschließlich 0,05 oder vergleichbare Beeinträchtigung“. 3. Hochgradige Sehbehinderung, z.B. Visus kleiner gleich 0,05 bis ausschließlich 0,02 oder vergleichbare Beeinträchtigung“. Zu „Blindheit“ zählt z.B. Visus kleiner gleich 0,02 oder vergleichbare Beeinträchtigung.“ Darunter große geschweifte Klammer zu Rechteck „Mögliche Behinderung von Aktivität und Teilhabe unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren (z.B. Grad der Barrierefreiheit, Zugänglichkeit und Einsatz von Hilfsmitteln und spezifischen Medien, Orientierungshilfen) und personenbezogener Faktoren (z.B. Erfahrungshintergrund, Kompetenzen bei der Hilfsmittelnutzung, Alter, erworbene Strategien).“
Abbildung 7: Klassifikationsmodell von Blindheit und Sehbeeinträchtigung (Lang & Heyl, 2020, S. 21)
 

Daten zur Häufigkeit

Absolute Angaben zur Anzahl blinder und sehbehinderter Menschen in Deutschland existieren nicht, so dass entsprechende Einschätzungen aus verschiedenen Statistiken und Erhebungen abgleitet werden müssen. Eine Übertragung von WHO-Statistiken auf die Bundesrepublik ergibt eine Zahl von 1.066.000 sehbehinderten Menschen und 164.000 Menschen mit Blindheit oder hochgradiger Sehbehinderung (Bertram, 2005). Aus bewilligten Anträgen auf einen Schwerbehindertenausweis lässt sich die Anzahl von knapp 124.000 blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen ableiten (Robert Koch Institut & Statistisches Bundesamt, 2017). Fast 80% der hier aufgeführten Menschen befindet sich in der Altersgruppe der über 60-Jährigen. Menschen mit Sehbehinderung werden in diesem Kontext nur sehr unzulänglich erfasst, da oftmals keine sozialrechtlich definierte Schwerbehinderung vorliegt. 

Für das Schulalter weist die Statistik des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK 2020) für das Jahr 2018 eine Zahl von 9.385 blinden und sehbehinderten Schülerinnen und Schülern aus, von denen 5.590 (48,9%) eine Schule mit Förderschwerpunkt Sehen und 5.795 (51,1%) eine Allgemeine Schule besuchten. Allerdings ist bei diesen KMK-Angaben zu berücksichtigen, dass Schülerinnen und Schüler mit Sehschädigungen und zusätzlichen Beeinträchtigungen nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Prävalenzstudien belegen, dass die Mehrzahl blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher weitere Behinderungen (Zerebralparese, geistige Behinderung etc.) aufweisen (Hatton et al., 2013) bzw. dass an Einrichtungen der Förderschwerpunkte Geistige Entwicklung und Motorische Entwicklung bis zu 15% der Kinder und Jugendlichen nach strenger sozialrechtlicher Definition eine Sehschädigung aufweisen (Drave et al., 2013). Die spezifischen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen werden in diesen Kontexten oftmals nicht erkannt.

Eine vergleichende Analyse der KMK-Statistik verschiedener Jahre zeigt, dass unabhängig von der Situation von Kindern und Jugendlichen mit mehrfachen Beeinträchtigungen die Gesamtzahl blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler kontinuierlich ansteigt, was auf Verbesserungen bei der Diagnostik von Sehbeeinträchtigungen zurückzuführen sein könnte.

Taubblindheit und Hörsehbehinderung müssen als Behinderungen eigener Art besonders betrachtet werden. Die diesbezüglichen Beeinträchtigungen lassen sich nicht additiv aus Hör- und Sehschädigungen ableiten. Untersuchungen zur Häufigkeit einer doppelten Sinnesbehinderung in Deutschland legen eine Prävalenz von 0,01% nahe (Lang et al., 2015). Dies bedeutet, dass bundesweit etwa 1.300 Kinder und Jugendliche eine taubblinden- bzw. hörsehbehindertenspezifische Unterstützung benötigen.