Wenn Sie ein pädagogisch förderliches Verständnis von Motorischen Behinderungen bzw. von - wie die AO-SF es nennt - Körperbehinderung entwickeln möchten, empfiehlt es sich, zunächst eine terminologische Abgrenzung der Begriffe Behinderung und Schädigung zu versuchen und den oft unterstellten, engen Zusammenhang zwischen einer körperlichen Schädigung und einer Motorischen Behinderung/Körperbehinderung zu problematisieren. Umgangssprachlich kommt es nicht selten vor, dass diese Begriffe synonym verwendet werden, denn auf den ersten Blick scheint vielen Menschen einleuchtend, dass körperliche Schädigungen in Körperbehinderungen/Motorischen Behinderungen resultieren, weil letztere auf Schädigungen zurückgehen. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass sich bei einer solchen Gleichsetzung von Begriffen Tautologien ergeben, das sind in diesem Fall scheinbar definitorische, aber inhaltlich leere Aussagen, die lediglich Begriffe gleichsetzen und auf unbewiesenen Kausalannahmen beruhen (Leyendecker 2005, S. 19).


Ein Beispiel zum Nachdenken

Stellen Sie sich einen Schüler vor, der infolge einer Schädigung des Rückenmarks querschnittgelähmt ist. Nehmen wir an, die Querschnittlähmung betrifft nur die Beine. Wenn dieser Schüler mit anderen Schülerinnen und Schülern in der Klasse am Tisch zusammensitzt, den Unterricht verfolgt oder eine Schreibarbeit erledigt, ist er in dieser Situation weder in den erforderlichen Funktionen beeinträchtigt, noch in der sozialen Teilhabe behindert. Der Schüler wird erst behindert, wenn die Lehrkraft verlangt, jedes Kind solle seine Arbeitsmaterialien aus einem Hochregal holen, wenn alle anderen Kinder beim Pausenzeichen plötzlich aufspringen und über eine Treppe auf den Schulhof eilen oder wenn einzelne Kinder den Schüler ablehnen, ihn nicht in das Pausenspiel einbeziehen möchten oder sich über seine Bewegungseinschränkungen lustig machen.


Dieses kurze Beispiel aus einer fiktiven inklusiven Schulsituation, von Leyendecker (2005, S. 18) übernommen und für unsere Zwecke etwas verändert, verdeutlicht, dass die Unterscheidung zwischen einem somatisch ausgerichteten Begriff der Störung bzw. Schädigung, welcher medizinische Sachverhalte in den Vordergrund rückt und einer möglicherweise daraus folgenden funktionellen und sozialen Beeinträchtigung, die mit dem Begriff der Behinderung erfasst wird, sinnvoll ist.

  • Eine körperliche Schädigung kann zu individuellen Aktivitätseinschränkungen führen, aber das ist nicht immer der Fall.
  • Eine Aktivitätseinschränkung kann zu einer Behinderung führen, aber auch das ist nicht immer der Fall. Einschränkungen der motorischen Aktivität führen nicht an sich, sondern nur bei negativer sozialer Bewertung zu Beeinträchtigungen der Partizipation. Eine Behinderung entsteht erst unter sozialem Bezug und in Relation zu sozialen Normen.

Wenn ein Kind im Rollstuhl sitzt und Schwierigkeiten mit der feinmotorischen Kontrolle der Hände hat, folgt aus diesen Aktivitätseinschränkungen nicht, dass das Kind nur mit wenig Erfolg am Mathematikunterricht teilnehmen könnte oder dass es nicht in die soziale Gemeinschaft der Schulklasse zu integrieren wäre. Es kommt darauf an, welche Leistungserwartungen an das Kind gesetzt werden, ob und wie auf seine Aktivitätseinschränkungen Rücksicht genommen wird und wie die Kinder der Schulklasse reagieren – Behinderung entsteht als Einschränkung der sozialen Partizipation erst bei negativen Reaktionen durch Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler.


Nach Cloerkes (2007) wird die Haltung, mit der wir Mitmenschen begegnen, zu großen Teilen durch verinnerlichte gesellschaftliche Einstellungen und Normen geprägt, die gewisse Erwartungshaltungen und Rollenzuschreibungen gegenüber bestimmten Personengruppen hervorrufen. Bei Abweichung von der Norm tendieren wir zu negativen Bewertungen. Im Bereich der Körperbehinderungen bildet die hohe Visibilität und die mit einer Behinderung verbundene Funktionsbeeinträchtigung oftmals die Grundlage für die Entwicklung von stigmatisierenden Einstellungen nicht behinderter Menschen gegenüber jenen Mitmenschen, die eine Körperbehinderung erkennen lassen.

Die Weltgesundheitsoganisation (WHO) möchte erreichen, dass bei der Wahl von Fachbegriffen keine unreflektierten Wertungen vorgenommen werden, welche die Teilhabe von benachteiligten oder behinderten Menschen erschweren. Sie hat im Jahre 2001 die ICF vorgelegt, die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (deutsche Fassung 2005: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), ein weltweit wegweisender Klassifizierungsversuch von Fachbegriffen für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Der Begriff der Behinderung wird durch den Begriff der eingeschränkten Teilhabe ersetzt, denn die ICF verfolgt konsequent den Gedanken, dass körperliche Schädigungen zwar häufig, aber nicht grundsätzlich zu Einschränkungen der individuellen kognitiven, affektiven, motorischen oder sozialen Aktivitäten führen und dass individuelle Aktivitätseinschränkungen nur dann zu Einschränkungen der sozialen Teilhabe führen, wenn sie im sozialen Umfeld auf Leistungserwartungen treffen, denen die Person nicht entsprechen kann oder wenn die Menschen im sozialen Umfeld die individuellen Aktivitätseinschränkungen negativ bewerten oder die betroffene Person mehr oder minder deutlich ablehnen.

Sechs Kästen mit Schrift. Oben: Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit). Über Doppelpfeile verbunden mit den drei Kästen darunter: Körperfunktionen und -strukturen; Aktivitäten; Partizipation (Teilhabe). Diese sind über Doppelpfeile verbunden mit den zwei Kästen darunter: Umweltfaktoren; personenbezogene Faktoren.

Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF (nach DIMDI 2005, S. 23)

Die Abbildung zeigt die grundlegenden Komponenten der ICF. Diese unterscheidet drei Ebenen, die Ebene der Körperfunktionen und -strukturen eines Menschen, die Ebene seiner individuellen Aktivitäten und die Ebene seiner sozialen Partizipation. Diese drei Ebenen stehen in Wechselwirkung zueinander und auf jeder Ebene kann bei einer Person uneingeschränkte Funktionsfähigkeit gegeben sein oder es können Funktionseinschränkungen vorliegen. Ob es in einem individuellen Fall zu einer Einschränkung der sozialen Teilhabe kommt, entscheidet sich in den Reaktionen des sozialen Umfeldes. Diese werden durch zwei Arten von Kontextfaktoren beeinflusst, die förderlich oder hinderlich ausgeprägt sein können und die ebenfalls in Wechselwirkung zueinander und zu den drei vorgenannten Komponenten stehen. Personenbezogene Faktoren sind spezielle Eigenschaften der Person oder ihrer Lebensführung wie Alter, Geschlecht, ethnische und soziale Zugehörigkeit, Fitness und Lebensstil, Bildung und Umgangsformen, die je nach sozialem Umfeld positiv oder negativ bewertet werden können und sich förderlich oder hinderlich auf die soziale Partizipation auswirken. Umweltfaktoren sind spezielle Eigenschaften der materiellen und sozialen Umwelt, im sozialen Bereich insbesondere vorherrschende Einstellungen gegenüber einem Menschen im unmittelbaren persönlichen Umfeld in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz und im Kreis der Freunde und Bekannten, aber auch Einstellungen in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben.

Körperbehinderung, traditionell als personengebundene Eigenschaft und individuelles Defizit aufgefasst, wird in der ICF in einen umfassenderen Kontext gestellt und dynamisch verstanden. Sie resultiert als mangelnde soziale Teilhabe aus Wechselwirkungen zwischen individuellen Eigenschaften einerseits und wirkmächtigen Faktoren des sozialen Kontextes andererseits (Bergeest & Boenisch 2019, S. 100-103). Folglich sollte, wenn der Begriff Körperbehinderung bei der Charakterisierung eines Menschen verwendet wird, diese als akzidentelles und nicht als essentielles Merkmal eines Menschen aufgefasst werden (Leyendecker 2006, S. 18).


 Auf den Seiten des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) steht der vollständige Text der ICF mitsamt Erklärungen, Kommentaren und erläuternden Fallbeispielen als Textdatei und als online zu lesende Datei zur Verfügung:

Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (2010). ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO. Köln: DIMDI. Im Internet unter https://www.dimdi.de/dynamic/.downloads/klassifikationen/icf/icfbp2005.zip


 Im Teilmodul „Diagnostik“ können Sie sich intensiver mit dem Aspekt der Diagnostik im Bereich körperlicher und motorischer Entwicklung auseinandersetzen. Das Modul „AO-SF“ bietet Ihnen grundlegende Informationen zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs.


Motorische Behinderungen und komplexe Behinderungen

Begriffe und Definitionen können, wenn sie auf Personen und Personengruppen angewendet werden, einerseits negativ etikettieren und abwertend stigmatisieren, aber sie bilden auch die Grundlage für eine Beschreibung von Sachverhalten und sie erleichtern die sprachliche Verständigung über Personen, Personengruppen und Problemlagen. Aktuell finden Definitionsvorschläge von Leyendecker (2006, S. 21 ff.) breite Zustimmung, die sich an den Schweregraden von körperlichen Beeinträchtigungen orientieren und wesentliche Elemente der ICF aufgreifen.

Abbildung. Vertikale Überschrift in Kasten in Petrol: „Motorische Behinderungen“. Von dort zwei Pfeile nach rechts. Pfeil oben „(i.e.S.)“ weist auf: „Körperbehinderungen“. Von dort drei Pfeile nach rechts zu: „Dimension der körperlichen Schädigung (Physical impairment)“; „Begrenzung o. Veränderung der Verhaltensmöglichkeiten (Activity limitation)“; „Erschwerte Selbstverwirklichung u. eingeschränkte soziale Teilhabe (Participation restriction). Pfeil unten „(i.w.S.)“ weist auf: „Motorische Beeinträchtigungen“. Von dort zwei Pfeile nach rechts zu: „Beeinträchtigung in der Entwicklung motorischer Funktionen“; „Verhaltens- und emotionale Störungen“.

Einteilung motorischer Behinderungen (in Anlehnung an Leyendecker 2005, S. 84 ff.)

Motorische Behinderungen im weiteren Sinne

beziehen alle Formen von Beeinträchtigung der motorischen Aktiviitäten ein, die verhältnismäßig leichtere Formen darstellen und die sich nicht auf die Schädigung körperlicher Strukturen oder Funktionen zurückführen lassen. Motorische Behinderungen im weiteren Sinne bezeichnet Leyendecker auch als Motorische Beeinträchtigungen, denen keine klaren Ursachen auf der ersten Ebene der ICF zugeordnet werden können. Sie treten auf der zweiten Ebene der Aktivitätseinschränkungen sowie der dritten Ebene der sozialen Teilhabe auf und lassen sich in Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen sowie Verhaltens- und emotionale Störungen unterscheiden (Leyendecker 2005, S. 107).

Motorische Behinderungen im engeren Sinne

beziehen sich auf körperliche Schädigungen schwereren Grades, die in Kombination mit motorischen Aktivitätseinschränkungen auftreten und oft zu erschwerter Selbstverwirklichung und eingeschränkter sozialer Teilhabe führen. Motorische Behinderungen im engeren Sinne setzt Leyendecker mit dem pädagogisch weit verbreiteten Begriff der Körperbehinderung gleich und definiert (2005, S. 21): „Als körperbehindert wird eine Person bezeichnet, die infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist.“

Komplexe Behinderungen

beziehen sich auf mehrfache oder schwerste mehrfache Behinderungen (Fornefeld, 2008). Die Gruppe der Menschen mit komplexen Behinderungen ist äußerst heterogen und schwierig zu beschreiben, gemeinsame Merkmale sind

  • Kumulation verschiedener Behinderungsformen,
  • hoher Förder- und Therapiebedarf,
  • lebenslange Abhängigkeit und Versorgungsbedarf,
  • Bedarf von Einzelzuwendung und direkter Ansprache,
  • Bedarf von Anpassung der Umgebung,
  • Bedarf an Kommunikationsunterstützung.


Die inklusive Beschulung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich körperliche und motorische Entwicklung umfasst bislang fast ausschließlich Lernende mit leichten und mittleren Körperbehinderungen. Begründet wird dies vor allem mit der Vereinbarkeit der pädagogischen Bedarfslagen mit den derzeit existierenden Rahmenbedingungen.

Da sich das Projekt Mathe inklusiv mit PIKAS inhaltlich an den aktuellen Inklusionsentwicklungen orientiert, thematisieren wir die in der Abbildung dargestellten Motorischen Behinderungen und wir gehen an dieser Stelle nicht weiter auf den besonderen und intensiven Unterstützungsbedarf der Schülerinnen und Schüler mit komplexen Behinderungen ein, der eine eigene und schwierige Thematik darstellt. Wer zu dieser Thematik Information und Hilfe sucht, kann das bereits zitierte Sammelwerk von Fornefeld (2008) zurate ziehen oder ein unterrichtspraktisch orientiertes Buch, das vom bayerischen Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (2018) herausgegeben wird.

 

Diese Seite wurde mit Unterstützung von  Dr. Ria-Friederike Kirchhof
vom Team des Projekts „Mathe inklusiv mit PIKAS“ erstellt.