Die Institutionalisierung von Bildung und Erziehung entwickelt und verändert sich in einer gegebenen Gesellschaft in einem historischen Prozess, der kontingent ist, d.h. er folgt nicht einer sich sachlich zwingend ergebenden Notwendigkeit oder einer sich logisch ergebenden Abfolge. Alle bildungspolitischen Entscheidungen mussten nicht so getroffen werden, wie sie getroffen wurden, man hätte auch andere Wege wählen können und alle Veränderungen am Bildungssystem waren vermutlich begründbar, aber nicht zwingend notwendig.

Wenn man kontingente Entwicklungen verstehen möchte, empfiehlt sich die historische Betrachtung: Ein kurzer Blick in die Vergangenheit erleichtert vielleicht das Verständnis der Gegenwart, die sich aus der Tradition heraus verstehen lässt, die hinter ihr steht und die zu den aktuellen Gegebenheiten geführt hat.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland die ersten Hilfsschulen gegründet. Sie entstanden als Reaktion auf eine schulische Notlage, die sich durch Einführung der allgemeinen Schulpflicht ergeben hatte. Es wurde nämlich deutlich, dass viele Schülerinnen und Schüler dem – nun für alle verpflichtenden – Unterricht in den Volksschulen nicht folgen konnten. Den betroffenen Kindern und Jugendlichen drohte Schulversagen und die damit verbundenen psychischen Belastungen und sozialen Benachteiligungen.

Viele Lehrer sahen sich im damals üblichen Frontalunterricht mit bis zu 80 Lernenden pro Klasse überfordert und sie forderten Entlastung. Es entstanden alternative Modelle der Beschulung wie Nachhilfeklassen oder Förderklassen für schwachbefähigte Kinder sowie sog. Nebenklassen, in denen die sog. schwachbefähigten Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen in Kleingruppen erlernen sollten, während sie den übrigen Unterricht in der Klassengruppe erhalten sollten.

Schulorganisatorisch durchgesetzt haben sich bis zur Jahrhundertwende jedoch voll ausgebaute und eigenständige Hilfsschulen, die aus den Förder- und Nebenklassen entwickelt wurden und die einerseits die Hilfsschüler zu relativ guten Lernerfolgen führten, andererseits die Lehrkräfte an den Volksschulen wirksam entlasteten (vgl. Klein, 2020; Möckel, 2014).

Die Hilfsschulpädagogik entwickelte sich ohne eigene Theoriebildung als pädagogische Antwort auf schulpraktische Notlagen. Das Hilfsschulkind wurde in Anlehnung an medizinische Auffassungen um die Jahrhundertwende als ein schwachbefähigtes bzw. „schwachsinniges“ Kind betrachtet, das vorrangig durch angeborene oder erworbene Retardierung in der geistigen Entwicklung gekennzeichnet war. Wurde eine solche Retardierung – etwa mithilfe eines der damals neu entstehenden Intelligenztests – festgestellt, galt das Kind als hilfsschulbedürftig.

Kritiker haben schon früh darauf hingewiesen, dass Intelligenzminderung und Hilfsschulbedürftigkeit nicht dasselbe sind und dass mindestens die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an Hilfsschulen aus armen Verhältnissen und nicht selten aus sozial randständigen Familien kamen. Sie waren sozial Benachteiligte und sie passten nicht zu den medizinisch bzw. psychologisch orientierten Definitionen von Schwachsinn (vgl. Kanter, 2001).

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wurden Hilfsschulen teilweise geschlossen, teilweise gleichgeschaltet, nach Ende des 2. Weltkrieges versuchte die junge Bundesrepublik Deutschland an die Hilfsschulentwicklung der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Es zeigte sich jedoch, dass der Begriff der Hilfsschule und des Hilfsschülers inzwischen negativ empfunden wurden und dass sich in den Hilfsschulen ein gravierender Wandel vollzogen hatte: Fast alle Schulen hatten einen lebenspraktisch orientierten Zweig für Heranwachsende mit erheblichem Unterstützungsbedarf und einen leistungsorientierten Zweig für Kinder und Jugendliche, die das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernen konnten.

Etwa ab 1960 war für die letztgenannten Schülerinnen und Schüler vereinzelt der Begriff „Lernbehinderte“ eingeführt worden und dieser Begriff setzte sich schnell durch, nicht zuletzt durch die Arbeiten von Kanter (1980), der diesen Begriff in einem Gutachten für den Deutschen Bildungsrat 1974 als Fachbegriff etabliert hatte.