Die in den beiden vorangegangenen Teilmodulen vorgestellten Definitionsvorschläge sind dichotomisierend und typologisierend: Sie legen Kriterien oder sogar quantitative Grenzwerte fest, nach denen zu entscheiden ist, ob ein Kind bzw. ein(e) Jugendliche(r) „lernbehindert“ oder „nicht lernbehindert“ ist, ob sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt oder nicht und sie verleiten dazu, nach der Dichotomisierung nach typischen Merkmalen der kategorisierten Kinder und Jugendlichen zu suchen.
Klauer und Lauth (1997) haben vorgeschlagen, einen anderen Weg zu gehen: Sie möchten die kategorialen Definitionen von Lernstörungen und Lernbehinderungen durch dimensionale Definitionen ersetzen, um auf diese Weise das praktische Handeln an pädagogisch brauchbaren, realistischen und theoretisch klaren Vorstellungen zu orientieren.
„Bei der dimensionalen Begriffsbildung werden Dimensionen oder Übergangsreihen aufgespannt, die man am besten mit ihren Extremen kennzeichnet,“ schreiben sie (Klauer & Lauth 1997, S. 702), und fahren fort: „Charakteristisch für eine Dimension ist, daß sie prinzipiell an jeder Stelle besetzbar ist, also sehr feine Differenzierungen zuläßt.“
Klauer und Lauth schlagen vor, Lernschwierigkeiten auf zwei kontinuierlich gedachten Dimensionen zu messen, nämlich hinsichtlich der Breite/des Umfangs und hinsichtlich der Zeitdauer/der Behandlungsresistenz. Partielle Lernstörungen betreffen nur einen Lernbereich, generalisierte Lernstörungen hingegen mehrere Unterrichtsfächer und in beiden Fällen können die Lernschwierigkeiten zeitlich vorübergehender oder überdauernder Art sein.
Wenn man so vorgeht, lassen sich diagnostisch verwendete Kategorisierungen in ein zweidimensionales Raster einordnen, wobei jeder Punkt des Kontinuums besetzt werden kann. Für die diagnostische Praxis bedeutet dies, dass Lernschwierigkeiten grundsätzlich hinsichtlich der beiden Dimensionen Breite und Zeitdauer differenziert zu beschreiben sind.
Tabelle 1: Dimensionale Klassifikation von Lernschwierigkeiten nach Klauer und Lauth (1997, S. 704)
Obwohl der Vorschlag von Klauer und Lauth (1997) in Wissenschaft und Forschung einige Beachtung gefunden hat, konnte er sich in der pädagogischen Praxis nicht durchsetzen. Die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) des Landes NRW spricht in § 3 von einer Lernbehinderung als einer Lern- und Entwicklungsstörung, die sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf begründen könne (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW 2015, S. 1).
In § 4 „Lern- und Entwicklungsstörungen (Förderschwerpunkte Lernen, Sprache, Emotionale und soziale Entwicklung)“ wird erläutert:
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Lern- und Entwicklungsstörungen sind erhebliche Beeinträchtigungen im Lernen, in der Sprache sowie in der emotionalen und sozialen Entwicklung, die sich häufig gegenseitig bedingen oder wechselseitig verstärken. Sie können zu einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in mehr als einem dieser Förderschwerpunkte führen.
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Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Lernen besteht, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind.
Beeinträchtigungen im Lernen, die wesentlich auf Sprachschwierigkeiten, emotionale und soziale Probleme oder psychische Störungen, Körperbehinderungen oder Seh- und Hörschädigungen beruhen, zählen nicht zur Gruppe der Lernbehinderungen. Trotzdem kann eine Lernbehinderung in Wechselwirkung mit solchen Funktionseinschränkungen entstehen, denn den Kern der Definition macht aus, dass der schulische Lernerfolg in einem nicht zu tolerierenden Ausmaß hinter den Erwartungen zurück bleibt, so dass schulisches Lernversagen droht.